Kirill Serebrennikow

Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber

Das Jolkafest - das sowjetische Weihnachtsfest ohne christlichen Bezug - ist in vollem Gange. – Fotoquelle: farbfilm verleih
(Kinostart: 26.1.) Petrov, von der Grippe geplagt, ist auf dem Weg zu Exfrau und Kind – das wird zur Reise durch eine zerfallende Gesellschaft: Regisseur Kirill Serebrennikow inszeniert einen Fiebertraum in der postsowjetischen Provinz und bringt lange nicht mehr gesehene Magie ins Kino.

„Bist du echt?“ – diese Frage stellt Petrow, die Hauptfigur in Kirill Serebrennikows Film, mehrmals den Menschen um ihn herum. Kurz vor dem Jahreswechsel tapert der wenig erfolgreiche Comiczeichner und (Über-)Lebenskünstler grippig angeschlagen durch seine Heimatstadt Jekaterinburg, in sowjetischen Zeiten Swerdlowsk genannt, kurz hinter dem Ural. Eigentlich will er nur mit dem Bus nach Hause zu Exfrau und Kind, die sich ebenfalls nicht wohl fühlen. Das Fahrzeug ist überfüllt und die ältliche resolute Schaffnerin als „Schneeflöckchen“ kostümiert, die traditionelle Assistentin von „Väterchen Frost“. Man beschwert sich über korrupte Politiker, ein alter Mann schüttet seinen Frauenhass über einem wehrlosen neunjährigen Mädchen aus, bis junge Männer ihn aus dem Bus zerren und verdientermaßen verprügeln.

 

Info

 

Petrov's Flu – Petrow hat Fieber

 

Regie: Kirill Serebrennikow,

145 Min., Russland 2022;

mit: Semyon Serzin, Chulpan Khamatova, Vladislav Semiletkov

 

Weitere Informationen zum Film

 

Soweit ist das ein ganz normaler Tag in der postsowjetischen Provinz vor etwa zwanzig Jahren, wo man sich für eine Sauftour einen knallbunt eingerichteten Leichenwagen unter den Nagel reißen konnte – wie Petrows zwielichtiger Bekannter Igor (Juri Kolokolnikow). Als Petrow bei ihm einsteigt, beginnt eine Reise, in der Realität und Fiebertraum übergangslos miteinander verschwimmen und fast magische Atmosphäre schaffen, wie sie lange nicht mehr im Kino zu sehen war.

 

Fieber und Drogen

 

Vorlage für diesen gut zweieinhalbstündigen Fiebertrip ist der gleichnamige, symphonisch komponierte Roman von Alexej Salnikow (Originaltitel: „Die Petrows haben Grippe“), dem bereits die Erfindung eines neuen Genres attestiert wurde: des Fieberromans. Als Vorläufer darf etwa ein Werk wie der drogenlastige, 1971 veröffentlichte Roman „Angst und Schrecken in Las Vegas“ von Hunter S. Thompson gelten, den Regisseur Terry Gilliams 1998 verfilmte.

Offizieller Filmtrailer


 

Theater auf der Filmbühne

 

Serebrennikow jedoch zieht in seiner Adaption alle kinematographischen Register – mit heute nur noch selten verwendeten Stilmitteln: lange, sparsam geschnittenen Einstellungen oder Kostüm- und Szenenwechsel direkt auf der Leinwand. Der Regisseur nutzt verschiedene Filmformate und handgezeichnete Animationen – und das alles dem Vernehmen nach ohne Hilfe von Computertechnik.

 

Das Geschehen wird von der Musikauswahl mal illustriert, mal kommentiert – eine nicht nur im Film „Leto“ (2018), sondern auch in seinen Theaterinszenierungen hervorstechender Kunstgriff von Serebrennikow. Und ein Kraftakt, nicht nur für die hervorragenden Akteure, sondern auch für den Regisseur: Der stand während der Dreharbeiten wegen angeblichen Steuerbetrugs in Moskau vor Gericht – was dem Film aber nicht anzumerken ist.

 

Virus aus der Vergangenheit

 

Der Film wirkt in mancher Hinsicht wie ein Abgesang auf seine russische Heimat – Serebrennikow lebt inzwischen in Berlin – die der Hauptfigur Petrow (Semyon Serzin) und vor allem seinem erfolglosen Schriftstellerfreund Sergey (gespielt von Popstar Ivan Dorn) nichts mehr zu bieten hat. Der lässt sich von Petrow beim Selbstmord assistieren, während dieser für seinen geliebten Sohn und die Exfrau (Chulpan Khamatova) weiterleben muss. Die Ex arbeitet als Bibliothekarin und entwickelt brutale Mordfantasien über ihre misogynen Kunden, aber auch über ihren Sohn – was in Manga-inspirierten Szenen genüsslich verstörend dargestellt wird.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films  "Leto" - brillanter Film über spätsowjetische Jugendkultur von Kirill Serebrennikow

 

und hier einen Beitrag über den Film "Der die Zeichen liest – Uchenik" – eindrucksvolle russische Charakterstudie über religiösen Fanatismus von Kirill Serebrennikow

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Sanfte" – wuchtige Parabel über Russland als Gefängnis von Sergei Loznitsa

 

und hier einen Bericht über den Film "The Zero Theorem – Das Leben passiert jedem" - skurril-schräge SciFi-Groteske von Monty-Python-Altmeister Terry Gilliam.

 

Nicht nur die vornamenlose Hauptfigur ist unübersehbar krank und flüchtet sich in ihren Fieberträumen in eine – auch nicht rosige – Kindheit. Die ganze Stadt scheint von einem nicht greifbaren Virus befallen, der in jeder noch nach Sowjetunion riechenden Ritze lauert und unvermittelt in brutaler, absurder Weise ausbrechen kann. Diese verrohte, rückwärtsgewandte Gesellschaft versucht scheinbar gar nicht, Neues zu finden oder zuzulassen. Dabei wirkt jede Einstellung und jedes Wort exakt durchkomponiert und in Teilen auch realistisch; durch die wie auf einer Bühne sichtbaren Szenenwechsel ist die Inszenierung immer klar erkennbar.

 

Nackter Widerstand

 

In diesen räumlich begrenzten Kosmos wird man unversehens immer weiter hineingezogen und hofft für alle Protagonisten auf irgendeine Art Erlösung aus ihren scheinbar unentrinnbaren Sackgassen: des Provinzlebens, der allgemeinen Perspektivlosigkeit oder des Lebens schlechthin. Die Passagen aus der Vergangenheit bergen noch eine gewisse Leichtigkeit, wenn man sieht, wie Petrows Eltern in der Wohnung meistens nackt sind – und so immerhin im Privaten widerständig. Der kleine Petrow freut sich indessen auf das Jolkafest – das sowjetische Weihnachtsfest ohne christlichen Bezug – im Kulturhaus, misstraut aber bereits seiner Wahrnehmung.

 

Dieses ineinander verschmelzende Wechselspiel zwischen Erinnerung, Traum und subjektiv erlebter Realität erinnert auch an klassische russische Literatur, wie manche Erzählungen von Gogol mit ihrer leise surrealen Komik; ohne die das Ganze auch schwer erträglich wäre. „Petrov’s Flu“ ist ein Fiebertrip, den man schwer vergisst und der bei mehrmaligem Ansehen noch gewinnt. Das ist selten geworden.