
Irgendwann in einem ungenannten Maghreb-Staat wird der junge Sharaf (Ahmed Al Munirawi) verhaftet. Er hat ungewollt einen Ausländer getötet, als er „seine Ehre verteidigen“ wollte, wie er es nennt. Unter Folter und der Androhung, auch seiner Schwester Gewalt anzutun, erpresst die Polizei ein Geständnis, und Sharaf landet im Gefängnis. Ihn erwartet ein Prozess und möglicherweise die Todesstrafe.
Info
Sharaf
Regie: Samir Nasr,
95 Min., Tunesien/ Frankreich/ Deutschland 2022;
mit: Ahmed Al Munirawi, Fadi Abi Samra, Jala Hesham
Weitere Informationen zum Film
Hölle ohne Entrinnen
Doch sein Rang unter den Königlichen hat einen Preis: Sharaf soll für den Vorsteher seine Mitgefangenen ausspionieren, was ihn bald in Gewissenskonflikte bringt. Währenddessen geht seine Beziehung mit Hoda (Jala Hesham) in die Brüche, und der Anwalt, den sich seine Familie kaum leisten kann, taucht niemals auf. Bald sieht es so aus, als sei Sharaf in einer Hölle angekommen, aus der es kein Entrinnen gibt. Damit endet der weitgehend düstere Film von Samir Nasr, nur aufgehellt von einem schwachen Lichtstrahl der Hoffnung.
Offizieller Filmtrailer OmU
Herrscher, Beherrschte + Strippenzieher
„Sharaf“ basiert auf einem 1997 veröffentlichten Roman des ägyptischen Autoren Sonallah Ibrahim; er hatte unter der Regierung von Gamal Abdel Nasser (1952-1970) von 1959 an selbst fünf Jahre im Gefängnis gesessen. Dementsprechend ist der Film zwar arm an Ereignissen, aber reich an Allegorien und Metaphern. Während er die Haftanstalt als Handlungsort niemals verlässt, entfaltet sich diese Männerwelt als Mikrokosmos der Gesellschaft in einer nahöstlichen Diktatur.
Alle sind da: die Herrschenden, die Beherrschten und die Strippenzieher im Hintergrund. Es gibt die „Bärtigen“, die in der Bibliothek aus den Bildbänden alle Frauengesichter herauskratzen; einen Frauenmörder, der Krokodilstränen weint (die man ihm abnimmt); mehr oder weniger Unschuldige und außerdem einen mehrfachen Raubmörder, der sich nach einer Umarmung sehnt.
Fiktiver Staat in alternativer Geschichte
Mit diesem gesellschaftlichen Querschnitt erinnert „Sharaf“ an das klaustrophobische Kammerspiel „Clash“ von Mohammed Diab (2016), das sich gänzlich in der Enge eines Gefangenen-Transporters abspielte. Aber das mähliche Tempo, der Tonfall und der moralische Kompass von „Sharaf“ weisen in eine andere Richtung.
Bevor der Film anfängt, versichert eine Texteinblendung, die Handlung spiele in einem fiktiven Staat, sogar während eines alternativen Geschichtsverlaufs, und die Realität sei dankenswerterweise nicht so schlimm. Aber diese Einleitung entpuppt sich als sarkastische Distanzierung, wohl zur juristischen Absicherung; denn im Verlauf der Handlung werden einige Tabus angekratzt.
Puppentheater für politischen Widerstand
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Clash" – Kammerspiel-Drama in einem Polizeitransporter über Ägyptens Zerrissenheit von Mohamed Diab
und hier eine Besprechung des Films "In den letzten Tagen der Stadt" – komplexer Kairo-Film von Ramer El Said
und hier einen Bericht über den Film "Nach der Revolution – After the Battle" – facettenreiches Polit-Drama über den Umbruch in Ägypten von Yousry Nasrallah
Diese Bausteine eines typischen Gefängnis-Films – also immer wenn an einem Ort, an dem erklärtermaßen nichts passieren soll, doch etwas passiert – sind bekannt. Doch anhand dieser Standard-Elemente, von „Papillon“ (1973) mit Steve McQueen bis „Die Verurteilten“ (1994) mit Morgan Freeman, entwickelt der in Karlsruhe geborene deutschägyptische Regisseur Samir Nasr seine politische Argumentation. Als deren Rezipient und somit als Stellvertreter des Publikums dient der meist passive Antiheld Sharaf.
Wie Josef K. in „Der Prozess“
Großäugig, gutherzig und bildhübsch, wird er in diese ihm unverständliche Welt geworfen wie der arme Josef K. in „Der Prozess“. Im Unterschied zu diesem Roman von Franz Kafka, der postum 1925 erschien, macht aber Sharaf einen Prozess der Bewusstwerdung durch: einen Schritt zur Subjektwerdung und schließlich zur politischen Tat. Darin liegt die positive Botschaft eines ausgezeichnet inszenierten und gespielten, aber inhaltlich beklemmenden Films.