
Die Unruh ist ein essentieller Bauteil jeder mechanischen Uhr: Dieses drehbar gelagerte Rad sorgt zusammen mit einer Spiralfeder und der so genannten Hemmung dafür, dass sich ihr Laufwerk schrittweise bewegt – und damit auch der Zeiger auf dem Zifferblatt. Wie das genau funktioniert, erklärt im Film die Facharbeiterin Josephine Gräbli (Clara Gostynski) drei geschlagene Minuten lang Pjotr Kropotkin (Alexei Evstratov). Wer danach wie Kropotkin behauptet, er hätte alles verstanden, kann sofort in einer Uhrenfabrik anfangen.
Info
Unruh (Unrueh)
Regie: Cyril Schäublin,
93 Min., Schweiz 2022;
mit: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Valentin Merz
Weitere Informationen zum Film
Von Gelassenheit zu Unruhestand
Die Unruhe hat aber auch einen zweiten, psychologischen Sinn. Während in Antike und Mittelalter Gleichmut und Gelassenheit als erstrebenswerte Seelenzustände galten, änderte sich das ab der frühen Neuzeit. Parallel zur Erfindung immer genauer gehender Uhren wuchs der Drang, aus der zur Verfügung stehenden Zeit das Maximum herauszuholen: Ohne präzise Zeitmessung wären die Eroberung fremder Welten und die Entstehung des Kapitalismus nicht möglich gewesen. Sich regen bringt Segen – bis hin zum „Unruhestand“, den heutige Pensionäre gern für sich beanspruchen.
Offizieller Filmtrailer
Hier wurde Kropotkin zum Anarchisten
Das Drehbuch von Cyril Schäublin bringt noch eine dritte Unruhe ins Spiel: die soziale. Das Zentrum der Uhrenindustrie in der Nordwestschweiz war Ende des 19. Jahrhunderts – man glaubt es kaum – auch eine Hochburg der anarchistischen Arbeiterbewegung. Ein Besuch bei der kurz zuvor gegründeten Juraföderation überzeugte 1872 den russischen Hochadligen und Geographen Pjotr Kropotkin (1842-1921) von den Prinzipien des kommunistischen Anarchismus; er wurde bald sein berühmtester Vordenker.
Diese drei Bausteine verflicht Schäublin zu einem Kostümfilm der besonderen Art; so unspektakulär wie außergewöhnlich. Eigentlich geht in der Jura-Gemeinde Saint-Imier alles seinen geruhsamen Gang: Die Werktätigen absolvieren beflissen ihre Zwölf-Stunden-Arbeitstage. Die Vorarbeiter rechnen ihnen bis auf den letzten Rappen vor, was sie geschafft haben – und wie sie ihre Leistung steigern müssen. Während ihrer Schichten erfreuen sich die Malocher an Grußbotschaften ausländischer Gesinnungsgenossen und spenden solidarisch für streikende Arbeiter in Amerika.
Anführer-Fotos als Sammelbilder
Doch wer seine Gemeindesteuern nicht bezahlt hat, wird in der Schenke nicht mehr bedient und darf nicht wählen. Derweil will der Fabrikdirektor mit Foto-Werbung neue Abnehmer gewinnen – seine Beschäftigten feuert er indes fristlos, wenn ruchbar wird, dass sie radikalen Zirkeln angehören.
Dann können sie nur noch anarchistische Chorgesänge anstimmen oder sich an Fotos verehrter Wortführer der Pariser Kommune erfreuen, die wie Sammelbilder gehandelt werden. Dagegen intonieren bürgerliche Patrioten die alte Schweizer Nationalhymne und stellen zum 500. Jahrestag die Schlacht von Murten nach, in der die Eidgenossen endgültig Burgund besiegten.
Hauptfiguren nicht als Helden
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Dene wos guet geit" – subtile Satire auf Geldgier in der Schweiz von Cyril Schäublin
und hier eine Besprechung des Films "Der junge Karl Marx" – hervorragendes Biopic über den Philosophen + Kapitalismuskritiker von Raoul Peck mit August Diehl
und hier einen Beitrag über den Film "Cronofobia" – Psychodrama über Angst vor zu schnell vergehender Zeit von Francesco Rizzi
und hier einen Bericht über den Film "Malmkrog" - Verfilmung eines Romans von Wladimir Solowjow über radikale russische Reformideen um 1900 durch Cristi Puiu.
Die Protagonisten werden häufig an die Ränder gedrückt, um die Aufmerksamkeit auf anderes zu lenken; etwa auf mächtige Bäume, so dass Menschen klein und zweitrangig erscheinen. Dem dienen auch häufige Wechsel zwischen extremen Naheinstellungen und Totalen, während Dialoge auf der Tonspur weiterplätschern: bloß keine Stilisierung der Hauptfiguren zu Helden der Geschichte!
Beste Regie bei Berlinale-Encounters
Im Rahmen dieses konsequent antiheroischen Konzepts stört kaum, dass die Laiendarsteller meist etwas steif und hölzern auftreten. Dafür parlieren sie durchgängig dreisprachig Schwyzerdütsch, Französisch und Russisch, während sie ständig ihre Uhren nachstellen und über verschiedene Zeitsysteme am selben Ort schwadronieren.
Mit unprätentiös originellem Stilwillen beleuchtet Regisseur Schäublin eine Geburtsstunde der modernen Gesellschaft zwischen Effizienzdiktat und Laissez-faire, zwischen Nationalismus und Arbeiterbewegung: Für diesen eigenwilligen Historienfilm erhielt er verdient den Preis für die beste Regie im Berlinale Encounters-Wettbewerb.