73. Berlinale

Zeit für Schwarmintelligenz

Goldener Bär für den Besten Film 2023: "Sur l’Adamant | On the Adamant" von Nicolas Philibert produziert von Céline Loiseau, Gilles Sacuto und Miléna Poylo. Foto: © Berlinale
Berlinale goes gaga: Der Goldene Bär ging an eine Doku über eine Psychiatrie-Klinik auf dem Wasser. Im Wettbewerb gaben Newcomer und Nobodys den Ton an; Glamour war gestern. Die Retrospektive überraschte mit hochwertiger Filmauswahl durch Praktiker – ein Vorbild für andere Sektionen.

Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert: An diesem Punkt ist die Berlinale inzwischen angekommen. Was nicht an dieser oder jener Fehlentscheidung liegt, sondern an einem Prozess des schleichenden Niedergangs. Seit mehr als einem Jahrzehnt arbeitet die Berlinale systematisch daran, ihren Status als eines der drei wichtigsten A-Festivals der Welt neben Cannes und Venedig zu untergraben.

 

Info

 

73. Berlinale

 

16.02. - 26.02.2023

in diversen Spielstätten, Berlin

 

Website des Festivals

 

Dieser Status setzt nicht nur voraus, dass in einem international besetzten Wettbewerb nur Weltpremieren zu sehen sind. Solche A-Festivals gibt es auch in Moskau, Kairo und Goa – doch was dort läuft, kümmert im Ausland keinen. In Cannes und Venedig werden die wichtigsten Produktionen des Weltkinos gezeigt: Autorenfilme renommierter Regisseure, die Chancen auf eine globale Auswertung haben. Das galt bis Anfang der 2010er Jahre auch für Berlin.

 

Typisch teutonische Didaktik

 

Doch dieses Renommee hat die Berlinale mittlerweile verspielt. Exklusive Entscheider-Zirkel mit Filmhochschul-Vorlieben, die per Kooptation stets Gleichgesinnte rekrutieren, wollen seit langem mit ihrer Filmauswahl das Publikum nicht über den aktuellen Arthouse-Stand informieren, sondern es – typisch teutonisch – erziehen: welche exzentrischen Themen, Minderheitenprobleme und Bildsprachen es gefälligst goutieren solle. Bei Nichtgefallen wird im Folgejahr mehr vom Gleichen geboten.

Trailer zum "Sur l’Adamant" von Nicolas Philiber, Gewinner des Goldenen Bären. Foto: berlinale.de


 

Keiner von zehn Berlinale-Siegern hatte Erfolg

 

Das zieht sich durch alle Sektionen, doch im Wettbewerb ist es am auffälligsten – dessen Teilnehmer werden am meisten beachtet und besprochen. Irgendwann bleiben berühmte Regisseure und Starschauspieler fern und reichen ihre Filme nicht mehr bei der Berlinale ein: Wer will sich schon der Gefahr aussetzen, dass die eigene, teure Großproduktion leer ausgeht, während alle Preise obskuren Konkurrenten zuerkannt werden, was meist Kopfschütteln auslöst?

 

Von den letzten zehn Berlinale-Siegerfilmen fanden nur zwei oder drei Zustimmung bei Kritik und Publikum; kein einziger war kommerziell erfolgreich. Manche Programmkino-Betreiber lehnen es rundweg ab, die Gewinnerfilme zu zeigen, da sie sich stets als Kassengift erweisen. Halbwegs zugkräftige Produktionen mit Starbesetzung gehen nicht mehr im Wettbewerb an den Start, sondern nur noch als „Berlinale Special“ – weil sie die kostenlose Extra-PR der Festival-Berichterstattung wenige Wochen vor ihrem regulären Kinostart gerne mitnehmen.

 

Provinzialisierung mit deutschen Beiträgen

 

Diesen Verfallsprozess spiegelte der diesjährige Wettbewerb wider: In ihm waren die beiden Arthouse-Routiniers Margarethe von Trotta und Christian Petzold die einzigen bekannten Namen. Ansonsten traten fast nur Newcomer, Nobodys und Außenseiter an. Was zunächst nichts über die Qualität ihrer Beiträge aussagt, aber Glamour und Blitzlichtgewitter sind anderswo. Zudem kamen fünf von 19 Kandidaten aus deutschen Landen – ein Indiz für die Provinzialisierung der Veranstaltung. Dass gleich zwei Animationsfilme aus Ostasien dabei waren, spricht ebenso dafür.

 

In den anderen Sektionen sah es wenig besser aus. „Berlinale Special“ war wie gewohnt ein Kessel Buntes: von Sean Penns Selbstbespiegelungs-Orgie in „Superpower“ und Dokus über Boris Becker und die Disco-Queen Donna Summer bis zu „Loriots Großer Trickfilmrevue“. Der Reihe Encounters, vom Leitungs-Duo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek 2020 als zweiter Wettbewerb für unkonventionelle und wagemutige Produktionen eingerichtet, fehlt weiterhin ein eigenständiges Profil.

 

Eindrucksvoll bestücktes Panorama

 

Gelungene Encounters-Filme wie „Im toten Winkel“ von Ayşe Polat, ein Thriller über Paranoia im türkischen Geheimdienst, oder die aufwändige Dystopie „White Plastic Sky“ aus Ungarn könnten problemlos im Wettbewerb mithalten. Dagegen wären die meisten der 16 Beiträge besser in den etablierten Sektionen Panorama und Forum aufgehoben. Ohnehin sind zwischen Wettbewerb, Encounters und Panorama kaum noch inhaltliche oder formale Unterschiede auszumachen. Was für das Panorama spricht: Es war so eindrucksvoll bestückt wie schon lange nicht mehr – insbesondere mit Beiträgen aus Ländern, aus denen selten Arthouse-Filme auf hiesige Leinwände kommen.

 

„Gaath“ über den vergessenen Kleinkrieg zwischen Armee und maoistischer Guerilla in Zentralindien; „Propriedade“ über eine brasilianische Großgrundbesitzerin, die einen Landarbeiter-Aufstand im SUV aussetzen will; oder „Sira“ über eine junge Nomadin in Burkina Faso, die von Islamisten entführt wird: Solche Filme bereiten ihre fremdartigen Sujets geschickt mit Genre-Elementen für westliche Zuschauer auf. Völlig zurecht erhielt „Sira“, von Regisseurin Apolline Traoré opulent in der mauretanischen Wüste inszeniert, den Publikumspreis der Sektion.

 

Am deutschen Wissen soll die Welt genesen

 

Dagegen bleibt das Forum samt verkünsteltem Ableger Forum Expanded eine Hochburg spröder Fingerübungen ohne jede Chance auf Resonanz außerhalb akademischer Ghettos. Nur die Sonderreihe „Fiktionsbescheinigungen“ mit aus dem Fundus geholten Filmen, die Migranten-Regisseure in den 1970/80er Jahren in Deutschland drehten, hatte eine gewisse Relevanz: als Nachweis, wie lange solche Blickwinkel hierzulande völlig ignoriert worden sind.

 

Was man vom heimischen Nachwuchs nicht sagen kann: Seit 20 Jahren darf er seine Erstlingswerke in der „Perspektive Deutsches Kino“ vorführen. Unter neuer Leitung der für dogmatisch politisch korrekte Radiokommentare bekannten Pop-Journalistin Jenni Zylka hat sich an der bleischweren Ausrichtung der Reihe nichts geändert: Unfallflucht in die Türkei, Putztruppen französischer AKWs, Justizopfer im Iran oder Polizeigewalt in Rio – vor dem investigativen Moralismus hiesiger Jungfilmer ist kein Elend weltweit sicher. Am deutschen Wissen soll wieder einmal die Welt genesen.

 

Potpourri von zeitlosen Klassikern

 

Überraschend weltläufig und abwechslungsreich fiel hingegen die Retrospektive aus, mit dem wohl attraktivsten Programm aller Sektionen. Was am Auswahlverfahren lag: Rainer Rother, Direktor der Deutschen Kinemathek, hatte renommierte Regisseure und Schauspieler gebeten, ihren jeweiligen Lieblingsfilm zum Thema „Coming of Age“ zu nennen. So kam ein Potpourri aus zeitlosen Klassikern zusammen.

 

Ohne unoriginell zu sein: Außer von Wim Wenders, dem nichts Besseres als der James-Dean-Heuler „Rebel without a Cause“ (1955) einfiel, wurden durchweg wenig präsente Werke nominiert, die ein Wiedersehen wert sind – vom Ostblock-Pop-Märchen „Tausendschönchen“ (1966) von Věra Chytilová bis zum Kolonialdrama „Rue Cases-Nègres“, von Garry Cardenat 1983 auf Martinique gedreht.

 

Anstell von Jurys sollte Publikum entscheiden

 

Fast alle dieser Archiv-Perlen wirkten einfallsreicher und ansprechender als das, was in den übrigen Sektionen aufgeboten wurde. Damit weist ausgerechnet die Retrospektive einen Ausweg aus der Sackgasse fortschreitenden Bedeutungsverlustes, in den sich die Berlinale manövriert hat. Anstelle von abgehobenen Programmverantwortlichen und Jurys, die sich in ihren esoterischen Geschmäckern gegenseitig bestätigen, sollte die Auswahl künftig öfter der Schwarmintelligenz von Praktikern und Publikum anvertraut werden: um Filme mit Anspruch zu zeigen, die auch Anklang finden.

 

Nun haben Regisseure und Normalbürger anderes zu tun, als pro Jahre mehrere hundert Filme zu sichten, die eingeliefert werden – doch man könnte ihnen die Endauswahl überlassen. Oder etliche der rund 30 berufenen oder selbst ernannten Jurys – von Amnesty International bis zum „Mastercard Enablement Programme“ – durch Publikumspreise ablösen. Bislang küren die zahlenden Zuschauer nur im Panorama den besten Spiel- und Dokumentarfilm; Gewinner dieser Preise kommen hernach regelmäßig in die deutschen Kinos und schneiden dort recht achtbar ab. Kein Wunder: Sie haben den Akzeptanz-Test bereits bestanden.

 

Achtjährige als beste Schauspielerin

 

Das kann man von den meisten diesjährigen Wettbewerbs-Filmen kaum behaupten. In einer lahmen Konkurrenz, deren Akteure oft um private Befindlichkeiten und Probleme kreisten, zeichnete die Jury ästhetisch eher anspruchslose Beiträge mit wohlfeil menschelnder Botschaft im Zeitgeist-Trend aus.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier die Festival-Bilanz der 72. Berlinale 2022: "Halbherziges Gesundschrumpfen"

 

und hier eine Festival-Bilanz der 71. Berlinale 2021: "Phantom-Festival der Anti-Ästhetik"

 

und hier eine Festival-Bilanz der 70. Berlinale 2020: "Verwelkte Vorschusslorbeeren"

 

Etwa LGBTQI*: Beide Silberne Bären für (nicht mehr geschlechterspezifische) Schauspieler-Leistungen gingen an Darsteller von Trans-Personen – an Thea Ehre für ihre Nebenrolle im Drogenkrimi „Bis ans Ende der Nacht“ und an Sofia Otero für ihre Hauptrolle in „20.000 Species of Bees“. Darin spielt die Neunjährige ein baskisches Kind mit Jungennamen, das ein Mädchen sein möchte. Eine Grundschülerin als beste Schauspielerin? Mal sehen, wann die Jury erstmals ein Haustier prämiert.

 

Are you crazy?

 

Als bestes Drehbuch wurde das Skript von Angela Schanelec zu ihrem gewohnt erratisch-sperrigem Film „Music“ prämiert. Der Silberne Bär für die beste Regie ging an Philippe Garrel für „Le Grand Chariot“, das nüchtern redselige Porträt einer Puppenspieler-Familie. Der Große Preis der Jury sowie der Preis der Jury, quasi die Silber- und Bronzemedaille des Wettbewerbs, wurden an das Quartett-Psychogramm „Roter Himmel“ von Christian Petzold und das Quintett-Psychogramm „Mal Viver“ von João Canijo vergeben.

 

Für das meiste Stirnrunzeln sorgte aber, wie so häufig, der Gewinner des Goldenen Bären:  Zum besten Film wurde „Sur L’Adamant“ gekürt. Die grobkörnige, mit der Handkamera gefilmte Dokumentation beobachtet die Insassen einer auf der Seine schwimmenden Tagesklinik für psychisch Kranke bei ihren Sitzungen und therapeutischen Aktivitäten. Dass seine Doku der Wettbewerbssieger sei, quittierte Regisseur Nicolas Philibert bei der Preisübergabe mit der Frage: „Are you crazy?“. Dem ist nichts hinzuzufügen.