Anne-Frank-Haus, Anne-Frank-Museum, Anne-Frank-Schule, Anne-Frank-Hospital… Ein junges, rothaariges Mädchen namens Kitty läuft durch die winterlichen Straßen von Amsterdam auf der Suche nach ihrer Freundin Anne Frank (1929-1945). Überall trifft sie auf ihren Namen, doch das Mädchen selbst ist nirgendwo zu finden: Anne Frank wird von ihrem eigenen Mythos verborgen.
Info
Wo ist Anne Frank?
Regie: Ari Folman,
100 Min., Israel/ Luxemburg/ Belgien/ Schweiz/ Deutschland 2022;
mit: Sarah Tkotsch, Anni C. Salander, Jaron Müller
Weitere Informationen zum Film
Kitty war Annes Tagebuch-Adressatin
Was alles nach Anne Franks letztem Tagebuch-Eintrag am 1. August 1944 und ihrer Verhaftung drei Tage später geschah, enthüllt sich Kitty allmählich im Verlauf des Films: Sie ist Annes imaginäre Freundin, an die sich viele ihrer Tagebucheinträge richten. Der israelische Regisseur Ari Folman erweckt Kitty im heutigen Amsterdam animiert zum Leben. Damit gelingt ihm, das Schicksal der berühmten Tagebuchschreiberin aus einem neuen Blickwinkel heraus zu erzählen.
Offizieller Filmtrailer
Backfisch mokiert sich über Spießer
„Wo ist Anne Frank?“ wechselt virtuos zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her. In Kittys Erinnerungen erwacht Anne wieder zum Leben: als aufgewecktes Mädchen mit scharfer Beobachtungsgabe und großer Fabulierlust. Dabei wird sie keineswegs als Heldin verklärt, sondern erscheint mitunter als altkluger Backfisch, wenn sie ihre Mutter Edith streng kritisiert oder sich über die Spießigkeit ihrer Mitbewohner im Versteck mokiert.
Die Freiheit des Animationsfilms nutzt Folman auch, um Blicke in Annes Erinnerungen, Träume und Fantasien zu werfen. In diesen farbenfrohen und unbeschwerten Imaginationen spuken Figuren der griechischen Mythologie ebenso herum wie Hollywood-Stars der damaligen Epoche. Ohnehin wechselt die Farbgebung der Szenen je nach den dargestellten Ereignissen.
Verräter-Frage bleibt ausgeklammert
Bei den historischen Fakten erlaubt sich der Film – er wurde vom „Anne Frank Fonds“ in Auftrag gegeben, den Annes Vater Otto Frank 1963 in Basel gegründet hatte, um das Vermächtnis seiner Tochter über seinen Tod hinaus zu schützen – jedoch keinerlei Ausschmückungen. Annes Geschichte wird bis zum bitteren Ende erzählt; dabei bleibt aber die vieldiskutierte Frage ausgeklammert, wer Familie Frank und ihre Leidensgenossen 1944 an die NS-Schergen verraten hat.
Regisseur Folman ist Spezialist für die Aufarbeitung historischer Ereignisse mit animierten Mitteln. Sein vielfach ausgezeichneter Film „Waltz with Bashir“ (2008), der auf seinen eigenen Erlebnissen während des Libanonkrieges 1982 basierte, machte auf das Subgenre der dokumentarischen Animation aufmerksam; er war der wohl erste Zeichentrick-Spielfilm mit zeithistorischer Thematik und dezidiert politischer Botschaft.
Klassisch zweidimensionaler Zeichentrick
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Congress" – SciFi-Animationsfilm von Ari Folman nach einer Vorlage von Stanislam Lem
und hier einen Bericht über den Film "Die Odyssee" – einzigartiges Drama aus animierter Glasmalerei über zwei Geschwister auf der Flucht von Florence Miailhe
und hier eine Besprechung des Films "Inu-Oh" – Anime-Crashkurs in japanischer Geschichte von Masaaki Yuasa
und hier einen Beitrag über den Film "Wie der Wind sich hebt" – grandioser Animations-Historienfilm über Japan in der Zwischenkriegszeit von Hayao Miyazaki.
Die weitgehend minimalistisch reduzierten Zeichnungen sind in der Tradition klassischen Zeichentricks zweidimensional und schlicht gehalten; damit unterscheiden sie sich wohltuend von den meisten heutigen Animationsfilmen mit grellbunter 3D-Ästhetik. Einzig die Nazis werden klischeehaft als amorphe Masse mit rotäugigen, zähnefletschenden Höllenhunden dargestellt. Allerdings ist verständlich, dass sie in Annes Augen so erscheinen.
Pathetische Schluss-Passagen
Die schrecklichen Ereignisse, die ihr Tagebuch schildert, weisen für Folman bis in die Gegenwart: Anstelle der Juden seien heute Flüchtlinge aus Afrika die Parias der Gesellschaft. Um Annes moralischem Erbe gerecht zu werden, setzt sich Kitty leidenschaftlich für das Bleiberecht von Migranten ein. In diesen Schluss-Passagen kippt der Film ins plakativ Pathetische. Nichtsdestoweniger bietet Folmans Animationsfilm einen frischen und originellen Zugang zum legendären Tagebuch.