Ari Folman

Wo ist Anne Frank?

Anne Frank (Stimme: Anni C. Salander) in Amsterdam. Foto: © kinofreund eG 2023
(Kinostart: 23.2.) Das „Tagebuch der Anne Frank“ ist eines der berühmtesten Zeugnisse für NS-Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa. Der israelische Regisseur Ari Folman erzählt es neu und originell: mit einem Animationsfilm, der Annes imaginäre Freundin durchs heutige Amsterdam schickt.

Anne-Frank-Haus, Anne-Frank-Museum, Anne-Frank-Schule, Anne-Frank-Hospital… Ein junges, rothaariges Mädchen namens Kitty läuft durch die winterlichen Straßen von Amsterdam auf der Suche nach ihrer Freundin Anne Frank (1929-1945). Überall trifft sie auf ihren Namen, doch das Mädchen selbst ist nirgendwo zu finden: Anne Frank wird von ihrem eigenen Mythos verborgen.

 

Info

 

Wo ist Anne Frank?

 

Regie: Ari Folman,

100 Min., Israel/ Luxemburg/ Belgien/ Schweiz/ Deutschland 2022;

mit: Sarah Tkotsch, Anni C. Salander, Jaron Müller

 

Weitere Informationen zum Film

 

Der entstand in den 1950er Jahren. Das Mädchen war mit seiner jüdischen Familie vor NS-Verfolgung in die Niederlande geflohen war, hatte sich dort zwei Jahre lang im Amsterdamer Hinterhaus versteckt und dort ihr Tagebuch verfasst. Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht und rasch ein Welterfolg – in 70 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt. 2009 nahm die UNESCO das Werk ins Weltdokumentenerbe auf.

 

Kitty war Annes Tagebuch-Adressatin

 

Was alles nach Anne Franks letztem Tagebuch-Eintrag am 1. August 1944 und ihrer Verhaftung drei Tage später geschah, enthüllt sich Kitty allmählich im Verlauf des Films: Sie ist Annes imaginäre Freundin, an die sich viele ihrer Tagebucheinträge richten. Der israelische Regisseur Ari Folman erweckt Kitty im heutigen Amsterdam animiert zum Leben. Damit gelingt ihm, das Schicksal der berühmten Tagebuchschreiberin aus einem neuen Blickwinkel heraus zu erzählen.

Offizieller Filmtrailer


 

Backfisch mokiert sich über Spießer

 

„Wo ist Anne Frank?“ wechselt virtuos zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her. In Kittys Erinnerungen erwacht Anne wieder zum Leben: als aufgewecktes Mädchen mit scharfer Beobachtungsgabe und großer Fabulierlust. Dabei wird sie keineswegs als Heldin verklärt, sondern erscheint mitunter als altkluger Backfisch, wenn sie ihre Mutter Edith streng kritisiert oder sich über die Spießigkeit ihrer Mitbewohner im Versteck mokiert.

 

Die Freiheit des Animationsfilms nutzt Folman auch, um Blicke in Annes Erinnerungen, Träume und Fantasien zu werfen. In diesen farbenfrohen und unbeschwerten Imaginationen spuken Figuren der griechischen Mythologie ebenso herum wie Hollywood-Stars der damaligen Epoche. Ohnehin wechselt die Farbgebung der Szenen je nach den dargestellten  Ereignissen.

 

Verräter-Frage bleibt ausgeklammert

 

Bei den historischen Fakten erlaubt sich der Film – er wurde vom „Anne Frank Fonds“ in Auftrag gegeben, den Annes Vater Otto Frank 1963 in Basel gegründet hatte, um das Vermächtnis seiner Tochter über seinen Tod hinaus zu schützen – jedoch keinerlei Ausschmückungen. Annes Geschichte wird bis zum bitteren Ende erzählt; dabei bleibt aber die vieldiskutierte Frage ausgeklammert, wer Familie Frank und ihre Leidensgenossen 1944 an die NS-Schergen verraten hat.

 

Regisseur Folman ist Spezialist für die Aufarbeitung historischer Ereignisse mit animierten Mitteln. Sein vielfach ausgezeichneter Film „Waltz with Bashir“ (2008), der auf seinen eigenen Erlebnissen während des Libanonkrieges 1982 basierte, machte auf das Subgenre der dokumentarischen Animation aufmerksam; er war der wohl erste Zeichentrick-Spielfilm mit zeithistorischer Thematik und dezidiert politischer Botschaft.

 

Klassisch zweidimensionaler Zeichentrick

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Congress"  – SciFi-Animationsfilm von Ari Folman nach einer Vorlage von Stanislam Lem

 

und hier einen Bericht über den Film "Die Odyssee" – einzigartiges Drama aus animierter Glasmalerei über zwei Geschwister auf der Flucht von Florence Miailhe

 

und hier eine Besprechung des Films "Inu-Oh" – Anime-Crashkurs in japanischer Geschichte von Masaaki Yuasa

 

und hier einen Beitrag über den Film "Wie der Wind sich hebt" – grandioser Animations-Historienfilm über Japan in der Zwischenkriegszeit von Hayao Miyazaki.

 

Mit „Wo ist Anne Frank?“ wendet sich Folman in erster Linie an ein jugendliches Publikum im Alter der Protagonistinnen. Sein Film beschönigt nichts; er macht die unerträgliche Enge im Versteck und zunehmende Verzweiflung Annes fühlbar und begleitet seine Heldin über das Ende des Tagebuchs hinaus bis ins KZ Bergen-Belsen. Dabei wahrt er stets das Gleichgewicht zwischen Mitgefühl und Schrecken. Der abstrahierende Charakter animierter Filmszenen erleichtert es in gewisser Weise, sich mit solchen traumatischen Erfahrungen auseinanderzusetzen.

 

Die weitgehend minimalistisch reduzierten Zeichnungen sind in der Tradition klassischen Zeichentricks zweidimensional und schlicht gehalten; damit unterscheiden sie sich wohltuend von den meisten heutigen Animationsfilmen mit grellbunter 3D-Ästhetik. Einzig die Nazis werden klischeehaft als amorphe Masse mit rotäugigen, zähnefletschenden Höllenhunden dargestellt. Allerdings ist verständlich, dass sie in Annes Augen so erscheinen.

 

Pathetische Schluss-Passagen

 

Die schrecklichen Ereignisse, die ihr Tagebuch schildert, weisen für Folman bis in die Gegenwart: Anstelle der Juden seien heute Flüchtlinge aus Afrika die Parias der Gesellschaft. Um Annes moralischem Erbe gerecht zu werden, setzt sich Kitty leidenschaftlich für das Bleiberecht von Migranten ein. In diesen Schluss-Passagen kippt der Film ins plakativ Pathetische. Nichtsdestoweniger bietet Folmans Animationsfilm einen frischen und originellen Zugang zum legendären Tagebuch.