Will Merrick + Nicholas D. Johnson

Missing

June (Storm Reid) wartet vergeblich auf ihre Mutter. Foto: © 2021 CTMG, All Rights Reserved.
(Kinostart: 23.2.) Klick und weg: Die Suche einer Tochter nach ihrer verschwundenen Mutter inszeniert das US-Regieduo Merrick und Johnson als Mystery-Desktop-Thriller – also nur mit Bilder- und Datenwelten aus PC-Speichern und Internet. Als Teil der Zukunft – aber sicher nicht der Zukunft des Kinos.

Teenager June lebt mit ihrer Mutter Grace in einem Stadtteil von Los Angeles; ihr Vater ist vor ein paar Jahren an Krebs gestorben. Sie schaut sich gern True-Crime-Serien auf Netflix an, ihre beste Freundin heißt Veena und beide freuen sich, dass Grace mit ihrem neuen Freund zu einem Trip nach Kolumbien aufbricht – denn das verspricht eine sturmfreie Bude.

 

Info

 

Missing

 

Regie: Will Merrick und Nicholas D. Johnson,

111 Min., USA 2023;

mit: Nia Long, Megan Sure, Storm Reid 

 

Weitere Informationen zum Film

 

All das erfährt man nur aus Browser-Fenstern, Media-Playern, Video-Telefonaten und Chat-Verläufen. „Missing“ spielt sich ausschließlich auf den Benutzeroberflächen digitaler Kommunikationsgeräte ab – eine auf den ersten Blick zweidimensionale Bildwelt. Aber dieser Schein trügt: In den Tiefen der vernetzten Geräte verbergen sich Fragmente der Identitäten ihrer Benutzer. Erinnerungsfilmchen, Konversationen, Audiobotschaften, Quittungen, Suchverläufe – dem Regie- und Autoren-Duo Will Merrick und Rick Johnson gelingt es recht gut, aus diesen Bestandteilen ein Narrativ zu entwickeln und das Publikum über Spielfilmlänge bei der Stange zu halten.

 

Dunkles aus dem Netz

 

Als Grace nicht aus dem Urlaub zurückkehrt, zeigt digital native June erst einmal, wie sie die Ressourcen des WWW für sich nutzen kann. Erstaunlich schnell kommt sie mithilfe der richtigen Webseiten an Live-Bilder aus Kolumbien und bucht dort einen gig worker, der für sie vor Ort die Laufarbeit übernimmt. Gleichzeitig stellt sie Recherchen über Graces neuen Freund an – und stellt dabei fest, dass der Mann eine dunkle Vergangenheit hat.

Offizieller Filmtrailer


 

Spaß auch für Ältere

 

June sieht sich gezwungen, Emails und Social-Media-Profile ihrer Mutter zu hacken, um mehr zu erfahren. Was könnte das richtige Passwort sein? So entfaltet sich eine digitale Schnitzeljagd, wobei die Kamera Details mal hilfreich heranzoomt, mal unauffällig am Bildrand stehen lässt. Der Verlauf der Handlung steht eher im Dienst dieses stets auf neue Wendungen, falsche Fährten und unerwartete Durchbrüche angewiesenen Plots – das belastet bei genauerem Hinsehen hier und da die Plausibilität der Geschichte.

 

Doch im Sog der Erzählung bleibt das nebensächlich, und am Schluss gelingt es – mit etwas Gewalt –, alle losen Enden zusammenzuführen und noch eine amüsante Schleife auf der Meta-Ebene zu drehen. Tonfall, Tempo und Ästhetik wenden sich vor allem an ein Publikum im ungefähren Alter der Hauptfigur June. Aber auch Menschen, die mit analogem Kino und Wählscheibentelefon aufgewachsen sind, werden nicht vom Spaß ausgeschlossen, wenn sie in den letzten 20 Jahren ein bisschen aufgepasst haben. Sie dürften sich in Graces immer wieder durchschimmernden medialen Unbeholfenheit wiedererkennen.

 

Experimentelles Extrem-Kammerspiel

 

Ästhetisch steht „Missing“ auch mit einem Bein in der älteren Kinotradition experimenteller Extrem-Kammerspiele. Hitchcocks „Cocktail für eine Leiche“ (1948) und „Bei Anruf Mord“ (1954) spielten in einem einzigen Raum, Joel Schumachers „Nicht auflegen!“ (2002) in einer Telefonzelle, „Lebanon“ (2009) von Samuel Maoz im Inneren eines Panzers.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Midsommar" – unkonventioneller Mystery-Horror-Thriller von Ari Aster

 

und hier eine Besprechung des Films "Der Unsichtbare" – subtiler Mystery-Horrorfilm von Leigh Whannell

 

und hier einen Bericht über den Film "#Zeitgeist" – Sittenbild-Ensembledrama über Liebe, Sex und Familie im Digital-Zeitalter von Jason Reitman.

 

Demgegenüber reicht der Handlungsraum von „Missing“ zwar von L.A. bis Cartagena und darüber hinaus tief in die digitale Welt. Er ist also eigentlich ungeheuer groß. Aber der subtil gelenkte Kamerablick fällt nur auf jenen Teil, der auf Junes Benutzeroberflächen landet. Für diese Erzählweise gibt es sogar schon eigene Genrenamen: Screenlife-Film oder auch Mystery-Desktop-Thriller.

 

Zwischen Podcast + Internet-TV

 

Aneesh Chaganty und Sev Ohanian, von denen das Drehbuch zu „Missing“ stammt, haben das Genre 2018 mit ihrem eigenen Film „Searching“ mitbegründet. Merricks und Johnsons „Missing“ ist das behutsam globalisierte Sequel nach bewährter Rezeptur. Auch hier herrscht eine zunächst verwirrende, aber erstaunlich schnell lesbar werdende Ko-Existenz disparater Informationsträger: Hollywood-Ästhetik neben unvorteilhaften Großaufnahmen einer Chat-Kamera, Details aus Webseiten-Layouts und die neue Sprache aus Abkürzungen und Emojis.

 

„Missing“ formt daraus eine in sich schlüssige Geschichte aus Erwartungen, Spannung und sogar Emotion. Letztere wirkt mit ihren klassischen Hollywood-Topoi freilich eher knallhart kalkuliert – so wie jedes Detail des Films, der mit etwas Argwohn betrachtet einen Generationsbruch im Kino anzeigt. Im Screenlife-Film ist „Film“ nicht mehr die Kunst von Licht und Schatten, sondern wird allenfalls in ein interdisziplinäres Text-Bild-Konzept integriert. Das hat mit Kino nicht mehr viel zu tun, sondern wird eher seinen eigenen Platz in der digitalen Medienwelt finden, zwischen Podcast, E-Sport und Internet-TV. Mystery-Desktop-Thriller sind ohne Zweifel neu, spannend, witzig und Teil der Zukunft – aber sicher nicht die Zukunft des Kinos.