
Auf den ersten Blick ist das Motiv an Banalität nicht zu überbieten: Gibt es ein abgedroscheneres Sujet als bonbonfarbene Sonnenuntergänge? Doch Menschen werden niemals müde, wie gebannt der untergehenden Sonne zuzuschauen. So hat der französische Maler Félix Vallotton nicht einen einzigen Sonnenaufgang gemalt, ihren Untergang aber 40 Mal. Damit liegt er in der Spitzengruppe der pinselnden Sonnenuntergangs-Anbeter. Dabei gleicht keine seiner Varianten der anderen – was die Sonne in unendlichen Wiederholungen für uns veranstaltet, birgt enormes künstlerisches Potential.
Info
Sunset –
Ein Hoch auf die sinkende Sonne
26.11.2022 - 02.04.2023
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
dienstags bis 21 Uhr
in der Kunsthalle Bremen, Am Wall 207, Bremen
Katalog 28 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Vergnügen und Erkenntnis
Das macht Vergnügen. Überdies wird Erkenntnisgewinn jenseits kunsthistorischer Aha-Effekte geboten, etwa in Sachen Physik und Ökologie. Mit 120 Arbeiten von der winzigen Druckgraphik bis zum raumgreifenden Ölschinken, vom Video bis zur Lichtinstallation ist die Schau umfangreich, aber nicht überfrachtet. Erhellt und angeregt verlässt man die Ausstellung.
Vor 150 Jahren ein Flop
Einige der schönsten Exponate entstammen dem hauseigenen Bestand, etwa eine großformatige Leinwand des norddeutschen Malers Johann Wilhelm Julius Köhnholz. Um 1871 malte er das Wettersteingebirge mit Zugspitze und Alpenglühen. Das Resultat gleicht in seiner Detailgenauigkeit fast einer Fotografie, von schroffen Felsstrukturen bis zu rosigen Gletscherflanken. Aber das Bild war seinerzeit ein Flop – das Motiv galt bereits als ausgeleiert. Erstmals seit 100 Jahren durfte es nun wieder aus dem Depot.
In einer anderen kunsthistorischen Liga spielt William Turner. Der britische Farbenzauberer des 19. Jahrhunderts darf in keiner Schau zum Thema Sonne fehlen, ebenso wie der mit nur einer Druckgraphik vertretene Claude Lorrain aus dem 18. Jahrhundert. Beide Landschaftsmaler fokussierten sich auf Momente des schwindenden oder aufgehenden Lichts – nur dann kann man der Sonne ja direkt entgegenblicken.
Den Fischersfrauen ist’s egal
Naturwissenschaftler bestätigen übrigens: Einem Bild lässt sich nicht zweifelsfrei ablesen, ob eine Morgen- oder Abendstimmung dargestellt ist; es sei denn, der Schauplatz ist bekannt. Der reisefreudige Turner nahm 1830 den Strand bei Calais in den Blick. Sein effektvolles Gemälde nimmt bereits die touristische Wahrnehmung vorweg, die überall nur schöne Stimmungen sucht. Der arbeitenden Bevölkerung dagegen ist der erhaben ins Meer sinkende Sonnenball egal: Die nach Ködern im Watt stochernden Fischersfrauen im Bild haben kein Auge dafür.
Wie sich mit den Farben die Gefühlstemperatur erhitzt, ist in der Schau vielfältig zu erleben. Während der Morgen als Sinnbild der Hoffnung gilt, bringt das schwindende Licht des Tages Nachtgedanken mit sich: Melancholie, Vanitas, Sehnsucht, Schwermut, ja Todesfurcht klingen in den Bildern an. Fernweh stellt sich ein, wenn gleich zu Beginn des Rundgangs der Plakatkünstler Klaus Staeck 1979 einen Ferienflieger in den glühend orangeroten Himmel abheben lässt.
Nebel in London – oder Smog
Klimakrise und Flugscham schicken ihre Vorboten voraus: „Keine Freiheit ohne Verschwendung“ lautet der Slogan in Staecks Bild. Gegenüber prangt wandfüllend eine Fototapete mit Sonnenuntergang unter Palmen, Kitsch as Kitsch can. Den Dauerurlaub fürs Heim ergänzt ein Abreißkalender. Jeden Tag wird ein neues Blatt aufgeschlagen: Die Kunsthalle lud im Vorfeld der Ausstellung zum Fotowettbewerb, Tausende sandten ihre Fotos ein – auch die sozialen Medien sind ja voll von Sonnenuntergängen.
Tatsächlich verändert die heutige Perspektive auch die Wahrnehmung historischer Sonnenuntergänge. Claude Monets impressionistisch getupfte Ansicht des Londoner Parlamentsgebäudes schimmert in gedämpften Pastellfarben. Nur diesiges Wetter? Nein: Der französische Maler atmete den giftigen Smog des Industriezeitalters ein. Ihn interessierten vor allem die ungewöhnlichen Farbeffekte. Seine Londoner Bildserie gilt Forschern mittlerweile als Beleg für die damalige Luftverschmutzung.
Fettiges Sonnenrund
Tatsächlich nutzen Klimaforscher historische Landschaftsbilder heute als Quellenmaterial. Als 1815 der indonesische Vulkan Tambora ausbrach, waren die Effekte weltweit spürbar. Malte der Dresdener Romantiker Caspar David Friedrich deshalb so zauberhaft errötende Sonnenuntergänge? Das von ihm ausgestellte Meisterwerk ist klein, aber hochberühmt. Eine junge Frau steht mit dem Rücken zum Betrachter direkt vor der verschwindenden Quelle des Lichts. Was sie sieht, bleibt verborgen; andächtig gibt sie sich dem Augenblick hin. Wer sich in sie hineinversetzt, kann je nach eigener Stimmung religiöse Ergriffenheit, geistige Freiheit oder pure Natur genießen – wie das Bild zu deuten sei, ist bis heute umstritten.
In den nachfolgenden Jahrzehnten erhitzte sich der Gefühlsgehalt beim Thema Sonnenuntergang, um dann im 20. Jahrhundert wieder abzukühlen – mit Dieter Roth kommt man endgültig in den Niederungen des Alltags an. Roth verwurstete das Kitschmotiv 1968, in dem er eine Scheibe fettigen Aufschnitts zwischen zwei Papierblätter schob und so das Sonnenrund ins Bild setzte. Das schimmelige Exponat hängt, geruchssicher gefasst, im Glasrahmen. Ist damit der Tiefpunkt des Sujets erreicht?
Alles an Horizontlinie aufgereiht
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Alpenglühen: Die Berglandschaft als Sehnsuchtsort" – besonnte Gipfel in der Kunst vom 19. bis 21. Jahrhundert im Schlossmuseum Murnau.
und hier eine Besprechung des Films "Mr. Turner – Meister des Lichts" – brillantes Biopic über den protoimpressionistischen britischen Maler William Turner von Mike Leigh
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Claude Lorrain – Die verzauberte Landschaft" – große Werkschau des Meisters barocker Sonnenuntergänge im Städel Museum, Frankfurt
und hier einen Bericht über den Film "Le Rayon vert – Das grüne Leuchten" von Éric Rohmer, führender Regisseur der französischen Nouvelle Vague.
Die Horizontlinie in den Bildern gibt die Hängung der Werke vor: Entlang dieser Richtschnur sind sie quer durch alle Säle, Epochen und Stile angeordnet – immer auf Augenhöhe mit dem Publikum. Der wenig bekannte Expressionist Josef Weisz lässt 1919 die biblischen Reiter der Apokalypse so heranstürmen, dass die dargestellte Welt aus dem Lot gerät. Folglich hängt das Bild mitsamt seiner explodierenden Sonne schief.
Naturschauspiel in 150 Sekunden Echtzeit
Daneben bleibt auf einem Gemälde von Otto Dix die Landschaft gänzlich ungerührt. Seine abgezirkelte Sonnenscheibe mit ihrem Strahlenkranz brennt den Soldaten, die im Vordergrund durch den Schützengrabenschlamm robben, in den Nacken – Apokalypse, damals wie heute.
Bei einem Film der Gegenwartskünstlerin Tacita Dean kehrt wieder konzentrierte Ruhe ein. Hier lässt sich der Sonnenuntergang in 150 Sekunden Echtzeit genießen: Man muss nur auf den Startknopf des 16mm-Projektors drücken, dann rattert das Naturschauspiel los. Die Meereswellen hüpfen, der Himmel beginnt zu glühen. Aber wird sich der im Titel versprochene „Green Ray“ wirklich zeigen? Nur bei klarer Sicht und höchst selten soll dieses Phänomen zu erhaschen sein, das auch Eric Rohmer in seinem Spielfilm „Das grüne Leuchten“ thematisierte. Jetzt nur nicht blinzeln – sonst ist der Moment vorbei und die Sonne am Horizont abgetaucht.