Michael P. Aust + Tessa Knapp

Can and me

Irmin Schmidt war Gründungsmitglied der Krautrock-Legende Can. Foto: © Copyright: Televisor
(Kinostart: 9.3.) Krautrock im Proto-Techno-Groove: Irmin Schmidt und seine Band Can waren in den 1970ern der bundesdeutschen Popkultur um Dekaden voraus. Das dokumentiert das Regie-Duo Aust und Knapp anschaulich und nostalgiefrei als Porträt des letzten lebenden Gründungsmitglieds.

Während dieser Text entsteht, spielt draußen unterm Fenster die Hauptstraße ihre tägliche Symphonie. An- und abschwellendes Rauschen des Verkehrs, vereinzeltes Hupen, das Rattern eines Presslufthammers. Die Vögel am Fenster setzen mit Gezwitscher melodiöse Akzente. Wir leben in einer Welt des Dauergeräusche: Ob das als störender Lärm oder Wohlklang empfunden wird, kommt auf die Perspektive an – und die Art des Zuhörens.

 

Info

 

Can and me

 

Regie: Michael P. Aust + Tessa Knapp,

84 Min., Deutschland 2022;

mit: Irmin Schmidt, Hildegard Schmidt, Roland Klick

 

Weitere Informationen zum Film

 

Für den Komponisten und Avantgarde-Musiker Irmin Schmidt ist Zuhören und Innehalten der zentrale Ausgangspunkt seines Schaffens. „Stille ist eine Metapher. Absolute Stille gibt es nicht“, sagt er zu Beginn von Michael P. Austs Regie-Debüt „Can and Me“. Derweil sind weite Weizenfelder zu sehen, durch die sanft der Wind streicht. Für Schmidt ist auch das Musik: Er steht damit in der Tradition seines einstigen Bekannten und Zeitgenossen John Cage (1912-1992), der in den frühen 1960er Jahren die legendäre Parole ausgab, alles könne Musik sein – ob Baustellenlärm oder Naturgeräusche.

 

Steine im Flügel

 

Wenige Sekunden später spielt Schmidt in seinem Haus in der Provence ein paar Töne auf seinem Steinway-Flügel, die gemessen an der traditionellen Harmonielehre völlig schräg klingen. Am Ende des Films wird Schmidt mit einem verschmitzten Lächeln zeigen, wie dieser Klang, der an alte Horrorfilm-Soundtracks erinnert, zustande kommt: Er hat die Saiten seines Flügels mit Schrauben, Steinen und Hölzern präpariert. So demonstrieren Aust und seine Ko-Regisseurin Tessa Knapp, dass Schmidt auch mit 85 Jahren noch experimentiert.

Offizieller Filmtrailer


 

Krautrock bei „Top of the Pops“

 

Der Dokumentarfilm des Regie-Duos zeigt, wie einst in der frühen Bundesrepublik Avantgarde entstand: nicht aus dem Nichts, sondern aus der Negierung von Tradition. Schmidt war bereits mit Mitte 20 ein bestens ausgebildeter Konzertpianist, Dirigent und Komponist. Doch die formalen und klanglichen Beschränkungen der Klassik langweilten ihn schnell. Er studierte von 1964 bis 1966 beim Komponisten Karlheinz Stockhausen, dem enfant terrible der elektronischen Neuen Musik. Den entscheidenden Kick erlebte er jedoch bei einem Dirigier-Wettbewerb in New York: Dort lernte er neben John Cage und weiteren Avantgardisten wie dem Velvet-Underground-Mitgründer John Cale auch, wie Schmidts Stimme aus dem Off erzählt, „interessante neue Drogen“ kennen.

 

Nach Köln zurückgekehrt, gründete er 1968 mit dem Bassisten Holger Czukay und dem Drummer Jaki Liebezeit die legendäre Band Can, die verschiedene Stile wie Freejazz, Rock, Funk und Psychedelic fusionierten. Innerhalb weniger Jahre waren sie weltweit bekannt: Während sie in Deutschland ein Geheimtipp blieben, kamen sie in Großbritannien mit ihrem Song „I want more“ 1976 in die Charts, was ihnen sogar einen Auftritt bei der BBC-Sendung „Top of the Pops“ bescherte.

 

Keine Hierarchie + keine Soli

 

Von Kollegen bewundert wurden sie, weil sie durch die ungewöhnliche Verwendung der Instrumente, etwa den proto-techno-artigen Groove des Schlagzeugers Liebezeit und dem perkussiven Keyboard-Spiel Schmidts, neue Klangwelten erschufen – vor allem aber, weil Can in ausufernden Sessions auch ganz anders zusammenspielte: strukturiert durch Bass und Schlagzeug, aber ohne Hierarchien und endlose Soli. Im damals noch regelverliebten Nachkriegsdeutschland war das ein politisches Statement.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Krautrock 1" – vielschichtige Doku über die deutsche 1970er-Jahre-Strömung von Adele Schmidt + José Zegarra Holder

 

und hier eine Besprechung des Films "Conny Plank – The Potential of Noise" - Dokumentation über den legendären Musikproduzenten von Reto Caduff + Stephan Plank

 

und hier einen Beitrag über den Film "Tony Conrad - Completely in the Present" - Doku-Porträt des US-Avantgarde-Komponisten + Miterfinders der Drone-Music von Tyler Hubby.

 

Nach dem Aus der Band 1978 begann Schmidt vorwiegend als Filmkomponist zu arbeiten, u.a. für den „Tatort“ oder jüngst für Stephan Wagners Dokudrama „Die Getriebenen“ (2020) über die so genannte Flüchtlingskrise 2015, nachdem er zusammen mit Can bereits in den 70er Jahren Soundtracks für etwa Roland Klicks Western „Deadlock“ (1970) oder Wim Wenders‘ Film „Alice in den Städten“ (1974) geschrieben hatte.

 

Hommage an unprätentiösen Künstler

 

All das erzählt der Regisseur Aust mit einer Mischung aus historischen Archivaufnahmen von Konzerten oder Interviews, kommentiert von heutigen Gesprächspartnern. Neben Schmidt selbst kommen auch andere renommierte Musiker wie Brian Eno oder DJ Westbam zu Wort – und nicht zuletzt seine Frau Hildegard, mit der Schmidt, wie er immer wieder stolz erwähnt, seit mehr als 60 Jahren verheiratet ist. Er verdankt ihr viel: Ohne ihr vorausschauendes Management wären wohl weder die Band Can noch die spätere Solo-Karriere ihres Ehemanns denkbar gewesen.

 

Dass Schmidt am Ende des Films am Flügel stehend von seinen neuesten Tourplänen erzählt, ist wohl die schönste Hommage an einen unprätentiösen Künstler, dem rückwärtsgewandtes Denken schon immer fern war – man kann nur im Hier und Jetzt der eigenen Umwelt zuhören.

 

Der letzte Überlebende

 

Aust und Knapp gelingt es sehr gut, Schmidts Beitrag zur BRD-Popkulturgeschichte zu erzählen, ohne zu nostalgisch zu werden. Fast zu gut: Angesichts des enorm einflussreichen Schaffens von Can hätte diese Doku ein bisschen mehr Glamour vertragen. Zumal er das letzte lebende Gründungsmitglied ist: Czukay, Liebezeit und Gitarrist Michael Karoli sind mittlerweile verstorben