
Während dieser Text entsteht, spielt draußen unterm Fenster die Hauptstraße ihre tägliche Symphonie. An- und abschwellendes Rauschen des Verkehrs, vereinzeltes Hupen, das Rattern eines Presslufthammers. Die Vögel am Fenster setzen mit Gezwitscher melodiöse Akzente. Wir leben in einer Welt des Dauergeräusche: Ob das als störender Lärm oder Wohlklang empfunden wird, kommt auf die Perspektive an – und die Art des Zuhörens.
Info
Can and me
Regie: Michael P. Aust + Tessa Knapp,
84 Min., Deutschland 2022;
mit: Irmin Schmidt, Hildegard Schmidt, Roland Klick
Weitere Informationen zum Film
Steine im Flügel
Wenige Sekunden später spielt Schmidt in seinem Haus in der Provence ein paar Töne auf seinem Steinway-Flügel, die gemessen an der traditionellen Harmonielehre völlig schräg klingen. Am Ende des Films wird Schmidt mit einem verschmitzten Lächeln zeigen, wie dieser Klang, der an alte Horrorfilm-Soundtracks erinnert, zustande kommt: Er hat die Saiten seines Flügels mit Schrauben, Steinen und Hölzern präpariert. So demonstrieren Aust und seine Ko-Regisseurin Tessa Knapp, dass Schmidt auch mit 85 Jahren noch experimentiert.
Offizieller Filmtrailer
Krautrock bei „Top of the Pops“
Der Dokumentarfilm des Regie-Duos zeigt, wie einst in der frühen Bundesrepublik Avantgarde entstand: nicht aus dem Nichts, sondern aus der Negierung von Tradition. Schmidt war bereits mit Mitte 20 ein bestens ausgebildeter Konzertpianist, Dirigent und Komponist. Doch die formalen und klanglichen Beschränkungen der Klassik langweilten ihn schnell. Er studierte von 1964 bis 1966 beim Komponisten Karlheinz Stockhausen, dem enfant terrible der elektronischen Neuen Musik. Den entscheidenden Kick erlebte er jedoch bei einem Dirigier-Wettbewerb in New York: Dort lernte er neben John Cage und weiteren Avantgardisten wie dem Velvet-Underground-Mitgründer John Cale auch, wie Schmidts Stimme aus dem Off erzählt, „interessante neue Drogen“ kennen.
Nach Köln zurückgekehrt, gründete er 1968 mit dem Bassisten Holger Czukay und dem Drummer Jaki Liebezeit die legendäre Band Can, die verschiedene Stile wie Freejazz, Rock, Funk und Psychedelic fusionierten. Innerhalb weniger Jahre waren sie weltweit bekannt: Während sie in Deutschland ein Geheimtipp blieben, kamen sie in Großbritannien mit ihrem Song „I want more“ 1976 in die Charts, was ihnen sogar einen Auftritt bei der BBC-Sendung „Top of the Pops“ bescherte.
Keine Hierarchie + keine Soli
Von Kollegen bewundert wurden sie, weil sie durch die ungewöhnliche Verwendung der Instrumente, etwa den proto-techno-artigen Groove des Schlagzeugers Liebezeit und dem perkussiven Keyboard-Spiel Schmidts, neue Klangwelten erschufen – vor allem aber, weil Can in ausufernden Sessions auch ganz anders zusammenspielte: strukturiert durch Bass und Schlagzeug, aber ohne Hierarchien und endlose Soli. Im damals noch regelverliebten Nachkriegsdeutschland war das ein politisches Statement.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Krautrock 1" – vielschichtige Doku über die deutsche 1970er-Jahre-Strömung von Adele Schmidt + José Zegarra Holder
und hier eine Besprechung des Films "Conny Plank – The Potential of Noise" - Dokumentation über den legendären Musikproduzenten von Reto Caduff + Stephan Plank
und hier einen Beitrag über den Film "Tony Conrad - Completely in the Present" - Doku-Porträt des US-Avantgarde-Komponisten + Miterfinders der Drone-Music von Tyler Hubby.
Hommage an unprätentiösen Künstler
All das erzählt der Regisseur Aust mit einer Mischung aus historischen Archivaufnahmen von Konzerten oder Interviews, kommentiert von heutigen Gesprächspartnern. Neben Schmidt selbst kommen auch andere renommierte Musiker wie Brian Eno oder DJ Westbam zu Wort – und nicht zuletzt seine Frau Hildegard, mit der Schmidt, wie er immer wieder stolz erwähnt, seit mehr als 60 Jahren verheiratet ist. Er verdankt ihr viel: Ohne ihr vorausschauendes Management wären wohl weder die Band Can noch die spätere Solo-Karriere ihres Ehemanns denkbar gewesen.
Dass Schmidt am Ende des Films am Flügel stehend von seinen neuesten Tourplänen erzählt, ist wohl die schönste Hommage an einen unprätentiösen Künstler, dem rückwärtsgewandtes Denken schon immer fern war – man kann nur im Hier und Jetzt der eigenen Umwelt zuhören.
Der letzte Überlebende
Aust und Knapp gelingt es sehr gut, Schmidts Beitrag zur BRD-Popkulturgeschichte zu erzählen, ohne zu nostalgisch zu werden. Fast zu gut: Angesichts des enorm einflussreichen Schaffens von Can hätte diese Doku ein bisschen mehr Glamour vertragen. Zumal er das letzte lebende Gründungsmitglied ist: Czukay, Liebezeit und Gitarrist Michael Karoli sind mittlerweile verstorben