Christophe Honoré

Der Gymnasiast

Lucas Ronis (Paul Kirchner), Quentin Ronis (Vincent Lacoste) und Lilio Rosso (Erwan Kepoa Falé) streifen durch Paris. Foto: Salzgeber
(Kinostart: 30.3.) Wenn die Kindheit schlagartig endet: Der Unfalltod des Vaters lässt seine Familie verstört zurück. Um seine Trauer zu bewältigen, verbringt ein 17-Jähriger eine Woche beim Bruder in Paris. Sein brutal beschleunigtes Erwachsenwerden beobachtet Regisseur Christophe Honoré sensibel und stimmig.

Ob erwartet oder plötzlich: Der Tod eines geliebten Menschen wirft seine Angehörigen immer aus der Bahn. So verhält es sich auch bei Lucas (hervorragend: Paul Kircher), der sich im Internat auf das Abitur vorbereitet und es kaum erwarten kann, danach endlich aus seinem Provinzkaff weg nach Paris zu gehen. Doch der tödliche Unfall seines Vaters bringt alles ins Wanken.

 

Info

 

Der Gymnasiast

 

Regie: Christophe Honoré,

122 Min., Frankreich 2023;

mit: Juliette Binoche, Vincent Lacoste, Paul Kircher 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Die Mutter (Juliette Binoche) und sein älterer Bruder Quentin (Vincent Lacoste), der aus Paris herbeieilt, sind genauso mit der Situation überfordert wie sämtliche Freunde und Verwandte, die irgendwie helfen wollen, aber doch nur die üblichen Umarmungsrituale und Floskeln parat haben. Auch Lucas’ Freund und Gelegenheits-Lover Oscar kann nichts bei dem 17-Jährigen ausrichten, der seine Trauer nicht auszudrücken weiß. Eine Woche Auszeit in der französischen Hauptstadt bei Quentin soll den Jungen auf andere Gedanken bringen; das funktioniert besser, aber auch anders als geplant.

 

Wut, Überforderung + Widersprüchliches

 

Nach Aussage von Regisseur Christophe Honoré ist dies sein persönlichster Film. Er stammt aus der Bretagne und hat früh seinen Vater verloren, wie die Hauptfigur. Autobiografisch ist „Der Gymnasiast“ dennoch nicht, sondern der gelungene Versuch, die Wut, Überforderung und Widersprüchlichkeiten im Trauerprozess eines Jugendlichen, der schnell erwachsen werden muss, unmittelbar erlebbar zu machen.

Offizieller Filmtrailer


 

Ähnlich wie „Der Fänger im Roggen“

 

Als Katalysator dafür dient Paris, wo Lucas in der WG seines Bruders und dessen Mitbewohners Lilio (Erwan Kepoa Falé) unterkommt. Der Teenager ist wild entschlossen, alle Möglichkeiten der Stadt auszukosten. Wie er durch die Straßen streift und jede spontane Begegnung ohne Vorbehalte geschehen lässt, erinnert ein wenig an die Atmosphäre in J.D. Salingers klassischem Coming-of-Age-Roman „Der Fänger im Roggen“ (1951). Die Umstände im Film sind jedoch ganz heutig.

 

So strebt sein Bruder rücksichtslos nach Erfolg für seine Kunst – Ausdruck einer prekären Situation, die wenig Raum für Innehalten und tiefe Gefühle lässt. Wovon Quentin eigentlich lebt, bleibt unklar. Ebenso unsicher ist die Lebenssituation von Mitbewohner Lilio; der schwarze Italiener träumt gleichfalls von einer Künstlerkarriere. Tatsächlich jobbt er als Einparker in einer Tiefgarage und bietet vielleicht auch Sex für Geld an. Vieles bleibt ungesagt und in der Schwebe. Auch das ambivalente Verhältnis der Brüder zueinander äußert sich eher in roher Gewalt als in Zuwendung, die Lucas in dieser Lage bräuchte.

 

Gefühlstaub im seltsam leeren Paris

 

Wie oft in den Filmen von Christophe Honoré herrscht auch hier ein melancholischer Grundton vor, der jedoch niemals melodramatisch oder kitschig wird. Zu früh wird Lucas mit der Vergänglichkeit des Lebens konfrontiert und stellt sich den Herausforderungen des Heranwachsens – es ist die klassische Konstellation eines Entwicklungsromans. Deswegen wirkt die Geschichte sowohl universell als auch zeitlos.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Zimmer 212 – In einer magischen Nacht" – fantastische Screwball-Komödie über notorische Ehebrecherin von Christophe Honoré mit Vincent Lacoste

 

und hier eine Besprechung des Films "Sorry Angel" über die letzte Liebe eines HIV-positiven Schriftstellers von Christophe Honoré 

 

und hier einen Beitrag über den Film "Die Liebenden – von der Last, glücklich zu sein" – hervorragendes Musical-Melodram von Christophe Honoré

 

und hier einen Bericht über den Film "Passagiere der Nacht" – sensibles Familien-Porträt im 1980er-Jahre-Paris von Mikhaël Hers mit Charlotte Gainsbourg.

 

Überdies spielt Musik eine wichtige Rolle, etwa das Lieblingslied der Eltern aus den 1980er Jahren und ein italienischer Schlager, den Lilio an einem unbeschwerten Abend singt. Die Musik spendet Trost und drückt aus, was nicht gesagt werden kann. Die Erfahrungen, welche Lucas in der nicht sonderlich glanzvollen Stadt macht, die mitunter passend zu seiner Gefühls-Taubheit seltsam leer erscheint, sind dennoch prägend für ihn. Er lässt sich treiben und versucht sogar Lilio zu verführen, da dieser ihm als einziger etwas echtes Mitgefühl signalisiert – anders als Quentin und die Mutter der beiden, die mit sich selbst beschäftigt sind.

 

Doku-Gespräch wie Tagebuch

 

Obwohl die familiäre Trauerbewältigung der Familie im Fokus stehen, erzählt Regisseur Honoré  nebenher auch von Verwerfungen in der französischen Gesellschaft, etwa bei einer kontroversen politischen Diskussion nach der Beerdigung des Vaters oder der lakonischen Charakterisierung einer einflussreichen Kuratorin als rassistischer Antisemitin. Lucas’ noch naive Perspektive mildert allerdings die Brisanz dieser Beobachtungen.

 

Darüber hinaus schafft die Kamera intime Momente, in denen die Entfremdung des Teenagers von seiner Umwelt deutlich hervortritt. Zwischendurch wechselt das Bild von verschwommener Videoästhetik zu einem mehrfach wiederkehrenden Gespräch, das dokumentarisch anmutet und in dem Lucas wie in einem Tagebuch seinen Gedanken freien Lauf lässt. Bis seine Mutter die  auseinanderdriftende Restfamilie wieder zusammenbringt. Laut Honoré wollte der Regisseur ein vergangenes Gefühl in die heutige Realität übertragen. Das gelingt ihm zweifellos mit großer Intensität.