Lars Kraume

Der vermessene Mensch

Die Herero-Frau Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama). Foto: Copyright: Studiocanal GmbH / Willem Vrey
(Kinostart: 23.3.) Premiere für einen vergessenen Völkermord: Dieser Spielfilm ist der erste über das deutsche Kolonialreich – am Beispiel des Genozids an den Herero. Ihn bereitet Regisseur Lars Kraume bewundernswert differenziert auf; samt Sündenfall der Ethnologie für rassistische Ziele.

Wiederentdeckung eines versunkenen Kontinents: Die deutsche Kolonialepoche ist gerade einmal 100 Jahre her, aber hierzulande nur noch schemenhaft bekannt, kaum besser als etwa die Völkerwanderungszeit. Aus verständlichen Gründen: Das ab 1884 entstandene deutsche Kolonialreich war vergleichsweise klein, über den Globus verstreut, niemals profitabel – und kurzlebig: Nach der Niederlage des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg wurde es unter den siegreichen Alliierten aufgeteilt.

 

Info

 

Der vermessene Mensch

 

Regie: Lars Kraume,

110 Min., Namibia/ Deutschland 2021;

mit: Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek

 

Weitere Informationen zum Film

 

Dieser Verlust erlaubte den Deutschen, ihre glücklosen Kolonialabenteuer gründlich zu vergessen; sie hatten im 20. Jahrhundert weitaus größere Katastrophen zu bewältigen. Zumal die Verbindung zu den einstigen Kolonien praktisch abgerissen war – anders als bei den übrigen Kolonialmächten in Europa, die nach der Entkolonialisierung ab Mitte der 1950 bis Mitte der 1970er Jahre weiter enge politische und wirtschaftliche Kontakte zu früher beherrschten Territorien unterhielten; in den meisten Fällen bis heute.

 

Staubtrockener Anfang im DHM 2016

 

Dass deutsche Kolonialherren rund drei Dekaden lang Gebiete in Afrika und Asien ausgebeutet und verheert hatten, kam fast nie zur Sprache. Ausnahmen wie Uwe Timms Roman „Morenga“ (1978) über den Völkermord in Südwestafrika, 1985 als TV-Dreiteiler verfilmt, oder das Buch „Herero“ (2003) von Gerhard Seyfried bestätigten die Regel. Einen ersten Wendepunkt bildete 2016 die Ausstellung „Deutscher Kolonialismus“ im Deutschen Historischen Museum: Sie war überladen, kleinteilig und staubtrocken – aber immerhin ein Anfang.

Offizieller Filmtrailer


 

Eingeübte Reflexe ausagieren

 

Doch er wurde überrollt von der Kampagne postkolonialer Aktivisten zur Restitution so genannter Raubkunst, etwa der Rückgabe aller Benin-Bronzen aus deutschen Museen im August 2022. In dieser Debatte konnten die Beteiligten geläufige Reflexe von Gratismut, selbstgerechtem Moralismus und kenntnisfreier Zerknirschung ausagieren, die während jahrzehntelanger NS-Vergangenheitsbewältigung eingeübt worden sind. Für hiesige Schuldkomplexe ist alles gleich belastet und verwerflich – also genaueres Hinsehen unnötig.

 

Umso verdienstvoller ist „Der vermessene Mensch“ von Lars Kraume: als tatsächlich erster Kino-Spielfilm seit 1945 über die deutsche Kolonialgeschichte. Neben etlichen Tatort-Krimis hat Kraume bereits mehrere Filme über Aspekte deutscher Diktaturen gedreht: „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015) porträtierte den bundesdeutschen Staatsanwalt, der den SS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann aufspürte. „Das schweigende Klassenzimmer“ behandelte 2018 einen Akt von zivilem Ungehorsam in der DDR. Doch nun nimmt sich der Regisseur ein wesentlich komplexeres Thema vor, das überdies deutlich schwieriger zu bebildern ist.

 

Schädel-Vermessung dient Rassismus

 

Dafür benutzt Kraume einen originellen Ansatz: die Entstehung der modernen Ethnologie um 1900, damals Völkerkunde genannt. Viele ihrer Vertreter waren ernsthaft bemüht, außereuropäische Kulturen zu verstehen und ihre Zeugnisse zu bewahren – derweil sollten sie auch die kolonialen Ambitionen ihrer Regierungen pseudowissenschaftlich rechtfertigen. Dazu diente etwa die Phrenologie; sie wollte mittels der Vermessung von Schädeln beweisen, dass die weiße Rasse allen anderen biologisch überlegen sei.

 

In diesem Spannungsfeld bewegt sich der Nachwuchsforscher Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher): Er ist überzeugt, dass Unterschiede zwischen Völkern nur kulturell, nicht erblich bedingt sind – Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) vertritt das Gegenteil. Auf der Völkerschau 1896 in Berlin-Treptow lernt Hoffmann die Herero-Frau Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) kennen. Sie hat bei Missionaren Deutsch gelernt und dolmetscht für eine Herero-Delegation, die beim Kaiser mehr Rechte für ihr Volk in Deutsch-Südwestafrika aushandeln will – natürlich vergeblich.

 

Höllenfahrt ins Herz der Finsternis

 

Sechs Jahre später nimmt Hoffmann am Feldzug der deutschen „Schutztruppen“ gegen die Herero teil. Als Kriegsgewinnler besonderer Art: Während er gegen die Brutalität des Militärs zaghaft protestiert, sammelt er eifrig Artefakte ein, die fliehende Schwarze in ihren Siedlungen hinterlassen. Dabei wird der Ethnologe Zeuge aller wichtigen Etappen des Kriegs, der sich 1904 zum Genozid ausweitet: der Schlacht am Waterberg, der Vertreibung überlebender Herero in die wasserlose Omaheke-Wüste und der Folgen des Vernichtungsbefehls von General von Trotha.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Woman King" – mitreißend inszeniertes Historiendrama über Sklavenhandel und Anfänge der Kolonialherrschaft in Schwarzafrika von Gina Prince-Bythewood

 

und hier eine Besprechung des Films  "Das Schweigende Klassenzimmer" – präzises Drama über den Widerstand einer DDR-Schulklasse von Lars Kraume

 

und hier einen Beitrag über den Film "Der Staat gegen Fritz Bauer" – Biopic über den Staatsanwalt, der Adolf Eichmann aufspürte, von Lars Kraume 

 

und hier einen Bericht über die "Komplett-Eröffnung des Humboldt Forums" mit dem Museum für Asiatische Kunst + Ethnologischen Museum in Berlin.

 

Hoffmanns Erlebnisse sind als Höllenfahrt nach dem Muster von Joseph Conrads Klassiker „Herz der Finsternis“ von 1902 angelegt: Jede Episode überbietet die vorangegangene an bizarrer Grausamkeit. Was die Hauptfigur desillusioniert; schließlich schändet er Herero-Gräber im Auftrag seines Doktorvaters, um das Berliner Völkerkundemuseum mit historischen Schädeln zu versorgen. Diese Aufgabe erlaubt ihm zugleich, Kezia zu suchen, die er seit ihrem Treffen in Treptow nicht vergessen kann. Als er sein love interest endlich aufspürt, enthüllt diese Begegnung die totale Unmenschlichkeit des Kolonialregimes.

 

Schädel zurück nach Namibia

 

Dessen Facetten stellt Regisseur Kraume bewunderungswürdig differenziert dar: ohne Gut-Böse-Schemata oder wohlfeile Verurteilung. Die Schutztruppen-Soldaten sind keine sadistischen Schlächter, die Herero keine edlen Wilden. Ihre Kultur und Lebenswelt wird minutiös rekonstruiert und in grandiosen Landschafts-Tableaus ausgebreitet. Schlichter Eigennutz und technische Überlegenheit stachelt den Rassismus der Eindringlinge an, bis sie ihre Feinde wie Tiere misshandeln. Wie es der Doppelsinn des Filmtitels nahe legt.

 

Zur postkolonialen Diskussion trägt „Der vermessene Mensch“ noch eine differenzierte Einsicht bei: wie unterschiedlich die Herkunft der Objekte ist, die in Depots ethnologischer Museen lagern. An vielen mag Blut kleben, an vielen nicht – bei den meisten wird sich das kaum zweifelsfrei rekonstruieren lassen. Doch gewiss ist: Die Schädel, die damals zu Hunderten aus Deutsch-Südwest ins Reich verschickt wurden, müssen ausnahmslos an ihre Nachfahren zurückerstattet werden. Alles andere wäre fortgesetzte Leichenschändung.