Düsseldorf + Lübeck

Mehr Licht – Die Befreiung der Natur

Johann Jakob Frey: Wolkenstudie (bei Rom?), um 1835/1839 Öl auf Papier, auf Leinwand, Privatsammlung. © Foto: OLRAC OTRO
Small is beautiful: Ölstudien aus dem 19. Jahrhundert galten lange nur als Hilfsmittel für Atelier-Kompositionen – obwohl sie oft frischer und lebendiger wirken als fertige Werke. 170 eindrucksvolle Beispiele zeigen Kunstpalast und Museum Behnhaus in einer erstklassig inszenierten Überblicksschau.

„Gegen Stress, Kummer, Eifersucht, Depression empfiehlt sich die Betrachtung von Wolken“, riet 2003 der jüngst verstorbene Allround-Intellektuelle Hans Magnus Enzensberger. Seine Devise prangt am Eingang der Ausstellung im Düsseldorfer Kunstpalast, die ab Juli im Lübecker Museum Behnhaus Drägerhaus zu sehen ist. Kuratiert hat sie ein anderer Allround-Intellektueller: Florian Illies – Bestseller-Autor, Ex-FAZ-Redakteur, Mitgründer des Kunstmagazins „Monopol“ und danach Jobhopper im Kunst- und Medienbetrieb.

 

Info

 

Mehr Licht – Die Befreiung der Natur

 

 

08.02.2023 - 07.05.2023

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr

im Kunstpalast, Ehrenhof 4-5, Düsseldorf

 

Katalog 36 €

 

Weitere Informationen

 

12.07.2023 - 15.10.2023

täglich außer montags 10 bis 17 Uhr

im Museum Behnhaus Drägerhaus, Königstr. 9-11, Lübeck

 

Weitere Informationen

 

Illies gilt als Kenner der Malerei im 19. Jahrhundert, vor allem von Ölstudien. Er und die Ko-Kuratorin Anna Christina Schütz haben diese Schau mit viel Sorgfalt konzipiert und durchgestaltet. Sie kommt dem Eintauchen – modisch Immersion genannt – in Kunst- als Naturanschauung so nahe wie in einer Ausstellung möglich: mit zehn abwechslungsreich inszenierten Abteilungen zu je einem Aspekt des Themas.

 

Bilder-Folge im Sonnenuhr-Stundentakt

 

Wandfüllende Reproduktionen einzelner Werke steigern die Wirkung der meist kleinen Formate ins Monumentale. Ihre Hängung wechselt zwischen üblicher Aneinanderreihung und asymmetrisch angeordneten Mosaiken, wenn mehrere Arbeiten einander ergänzen sollen. Im Kopfsaal zum Wandel der Lichtverhältnisse zwischen Sonnenauf- und -untergang ziert den Bodenbelag ein überdimensionales Sonnenuhr-Zifferblatt; die Bilder an den Wänden passen zu den angezeigten Stunden. Im Abschnitt zu Bäumen und Wäldern erklingt leises Vogelgezwitscher vom Band; bei den Schlechtwetter-Bildern hört man fernes Donnergrollen.

Impressionen der Ausstellung in Düsseldorf


 

Ab 1841 mit Farbtuben überall malen

 

Wobei dieses einfallsreiche Potpourri dezenter Erlebnisverstärker gar nicht nötig wäre – die 170 Exponate sind spektakulär genug. Obwohl sie lange wenig beachtet wurden: In freier Natur gemalte und unsignierte Studien- und Skizzenblätter begriff man nur als Hilfsmittel zur Vorbereitung von Kompositionen im Atelier, nicht als Kunstwerke von eigenem Rang. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert; Ölstudien sind inzwischen begehrte Sammelobjekte. Diese Überblicks-Ausstellung präsentiert sie erstmals in Deutschland als eigenständige Kunstgattung.

 

Ab etwa 1800 begannen Künstler, ihre Eindrücke in der Außenwelt mit Ölfarben auf Papier, Pappe, Leinwand- oder Holzstücken festzuhalten. Zuvor hatten sie im Freien nur gezeichnet oder aquarelliert. Das neue Verfahren beruhte teils auf technischen Innovationen: Mit den 1841 erfundenen Farbtuben konnte jeder überall malen, ohne zuvor selbst angerührte Farben umständlich transportieren zu müssen.

 

Den Zauber flüchtiger Momente einfangen

 

Es setzte sich aber auch dank eines veränderten Verständnisses von Wirklichkeit durch: Aufklärung und naturwissenschaftliche Entdeckungen hatten den Blick für die Realität geschärft und das Interesse an akkurater Wiedergabe des Gesehenen befördert. Nun wurden auch Kleinigkeiten wie Wurzeln, Steine und Mauerecken bildwürdig.

 

Dabei wollten Künstler den Zauber flüchtiger Momente einfangen. Ein im Grunde unmögliches Unterfangen: Mochte eine Felswand oder Baumgruppe auch stillstehen – schon der Lauf der Sonne sorgte für sich ständig ändernden Lichteinfall. Wolkenformationen oder Wasserläufe waren ohnehin dauernd in Bewegung; so schnell, dass kein Maler sie in Echtzeit fixieren konnte. Dennoch gelang es manchen, das mit sagenhafter Präzision und Leuchtkraft zu simulieren.

 

Nicht von Symbolik + Sinn überformt

 

Solche Ölstudien wirken völlig zeitlos. Insbesondere dann, wenn sie sich auf Naturphänomene beschränken, ohne dass menschliche Zutaten wie Häuser, Zäune oder Wege sie in der Epoche ihrer Entstehung verorten. Dann werden sie nicht überformt oder überfrachtet von den Anforderungen an Symbolik und Sinn, die im 19. Jahrhundert noch an Landschaftsmalerei gestellt wurden – sie sollte tiefe Einsichten in das Wesen von Schöpfung und Dasein veranschaulichen, die mittlerweile recht fragwürdig oder schlicht verstaubt erscheinen. Auf Atelierbildern musste jedes Element seine Bedeutung besitzen. Dagegen widmeten sich Ölstudien allein dem zweckfreien Spiel von Formen und Farben.

 

Dass sie im Vergleich zu fertigen Gemälden kaum gealtert sind, führt die Schau an mehreren Stellen vor. Im Sonnenuhr-Saal hängen zwei kleine Küstenlandschaften von Caspar David Friedrich; er fertigte fast nie Ölstudien an, sondern hielt etliche Motive auf Zeichnungen fest, um sie später als Versatzstücke in seine Bilder zu montieren. Auf beiden schillern die Himmel in delikat warmen Dämmerungs-Farbtönen – aber Fischerkähne, -netze und Segelschiffe im Gegenlicht machen die Szenen sofort als Seestücke von vor 200 Jahren kenntlich.

 

Überzeitliche Naturerfahrung

 

Ganz anders die „Abendstimmung an der Elbe“ vom wenig bekannten Carl Robert Kummer: Auch er schwelgt in Komplementärkontrasten aus zartem Abendrot am Firmament, vor dem sich dunkellila verschattete Wolkenbänder und Uferstreifen effektvoll abheben. Doch die einzige Spur humaner Präsenz ist ein winziger Ruderkahn. Er könnte auch zeitgenössisch sein – und dieses Bild soeben entstanden.

 

Die Überzeitlichkeit malerischer Naturerfahrung funktioniert genauso auf dem Festland. Etwa bei Bäumen: Dicht belaubte Kronen und Waldränder pinselte Johann Martin von Rohden so naturgetreu, dass man glaubt, die Blätter rascheln zu hören – obwohl er manche Hintergründe wegließ oder nur andeutete. Auch Ansichten antiker Trümmer in und um Rom, die er detailliert festhielt, ähneln heutigen Schnappschüssen. Setzt Reinhold jedoch diese Puzzlestücke zu einer idealen „Landschaft mit den Albaner Bergen, Nemisee“ zusammen, kündet dieses Großformat nur von der zeitgebundenen Harmonie-Sehnsucht der Romantik.

 

Je simpler, desto gegenwärtiger

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Sunset – Ein Hoch auf die sinkende Sonne" – schöne Themenschau mit 120 gemalten Sonnenuntergängen in der Kunsthalle Bremen

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Turner – Horror and Delight" – fulminante Retrospektive von William Turner, britischer "Maler des Lichts", im LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "John Constable – Maler der Natur" – erste deutsche Retrospektive des englischen Landschaftsmalers mit vielen Ölstudien in der Staatsgalerie Stuttgart

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Carl Blechen – Das Einfachste und daher Schwerste" – kleine, feine Werkschau des romantischen Landschaftsmalers in der Liebermann-Villa, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Camille Corot: Natur und Traum" über den bedeutendsten französischen Landschaftsmaler des 19. Jh. in der Staatlichen Kunsthalle, Karlsruhe

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Es drängt sich alles zur Landschaft…" über Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts im Museum für bildende Künste, Leipzig.

 

Je simpler das Sujet, desto atemberaubender gegenwärtig wirkt die Ausführung. Cumuluswolken von Johann Jakob Frey, Bachläufe mit Uferbewuchs von Johann Wilhelm Schirmer, Baumwipfel von Carl Gustav Carus oder umgestürzte Stämme mit Wurzelwerk von Christian Friedrich Gille begeistern durch geradezu fotografische Detailgenauigkeit und nuancierte Valeurs der Farbabstufung. Weil auf solchen Darstellungen Gewächse einfach Gewächse sein dürfen, ohne weitere Absichten, dabei jedoch die feinsten Verästelungen ihrer Oberflächen erkennbar sind.

 

Wobei manche menschliche Artefakte ähnliche Qualitäten aufweisen können – etwa wenn sie so dargestellt sind, dass ihre Funktion unerheblich wird. In der „Felshöhle mit Feueresse“ von Julius Rollmann hebt letztere die Wucht des umgebenden Gesteins umso mehr hervor. Bei Blicken aus Fenstern nach draußen, etwa auf Dresdens Stadtsilhouette von Traugott Faber oder auch nur auf Weinreben im Sonnenlicht von Maximilian Hauschild, betonen eckig starre Fensterrahmen vor allem das ungezähmte Wimmeln und Wuchern in der Umwelt jenseits der Glasscheiben.

 

Regenschauer wie Teer-Sturzbäche

 

Selbst die beige- und ockerfarbenen Architektur-Details in Venedig, Rom oder Tivoli, die Italienreisende auf Papier bannten, sehen in ihrer Ausschnitthaftigkeit so aus, als seien sie längst in anorganische Natur übergegangen. Am eindrucksvollsten sind aber Ölstudien zu Erscheinungen, die sich der Abbildung eigentlich entziehen: dem schlechten Wetter.

 

Mit unzähligen Grau-Schattierungen lässt Georges Michel dunkel dräuende Gewitterfronten über nordfranzösische Ebenen ziehen. Und auf Wolkenbruch-Studien von Anton Sminck van Pitloo ergießen sich lackschwarze Regenschauer wie Sturzbäche aus Teer oder Lava über Neapel. Solche Skizzen weisen mit gestischem Malduktus und aufgelösten Konturen weit über das 19. Jahrhundert hinaus; sie wirken unerhört modern. Was hier noch punktuell eingesetzt wird, sollte William Turner – der in dieser Schau nicht vertreten ist – perfektionieren: In seinem Spätwerk löst sich alles in gleißende Wirbel aus Licht und Schatten auf.