Dass Frauen und insbesondere Mütter die besseren Menschen seien – nämlich liebevoll, umsorgend und aufopfernd – ist ein weit verbreitetes Klischee. Umso größeres Entsetzen löst es aus, wenn eine Mutter ihren eigenen Nachwuchs umbringt. Vor knapp zehn Jahren erregte ein derartiger Fall in Frankreich großes Aufsehen.
Info
Saint Omer
Regie: Alice Diop,
123 Min., Frankreich 2023;
mit: Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville
Weitere Informationen zum Film
César für Kurzfilm 2017
Auch die Filmemacherin Alice Diop verfolgte damals den Gerichtsprozess im Städtchen Saint Omer, nach eigenen Worten obsessiv. Diop, die ebenfalls senegalesische Wurzeln hat, hatte bis dato nur mit dokumentarischen Arbeiten auf sich aufmerksam gemacht. Für ihren Kurzfilm „Vers la tendresse“ erhielt sie 2017 den höchsten französischen Filmpreis César.
Offizieller Filmtrailer
Re-enactment des Gerichtsprozesses
In ihrem Spielfilmdebüt „Saint Omer“ arbeitet Diop mit erkennbar dokumentarischen Mitteln den Gerichtsprozess auf. Die während der Prozessverhandlung vorgetragenen Ausführungen orientieren sich inhaltlich weitgehend am Gerichtsprotokoll. Das Verfahren wurde chronologisch gefilmt, so dass die Inszenierung stark an ein Theaterstück erinnert.
Diese Passagen bilden das Zentrum des Films; es besteht weitgehend aus den Aussagen der Angeklagten – im Film heißt sie Laurence Coly (Guslagie Malanda) – und diverser Zeugen sowie den Fragen von Richterin und Anwältin. Zu Wort kommt auch der Kindsvater Luc Dumontet (Xavier Maly); der ältere Bildhauer hatte seiner jungen Geliebten und der gemeinsamen Tochter augenscheinlich nur wenig Beachtung geschenkt.
Rahmenhandlung mit Prozessbeobachterin
Visuell wird das sehr karg umgesetzt. Der Gerichtssaal ist braun getäfelt, so dass die Angeklagte mit ihrem braunen Pullover und ihrer dunklen Hautfarbe fast mit den Wänden zu verschmelzen scheint. Umso mehr konzentrieren sich die langen, statischen Einstellungen auf die ausdrucksstarken Gesichter der Schauspielerinnen. Alle agieren sehr zurückgenommen spielen, und doch merkt man Richterin und Anwältin an, dass ihnen das Geschehen nahegeht. Nur die Angeklagte bleibt fast bis zum Schluss rätselhaft verschlossen.
Diop ergänzt die Gerichtsszenen um eine Rahmenhandlung, in der die junge Schriftstellerin und Professorin Rama (Kayije Kagame) dem Prozess als Zuhörerin beiwohnt, um darüber zu schreiben. Die Parallelen in ihrem Leben und dem der Angeklagten sind offensichtlich. Beide sind als farbige Intellektuelle zugleich Außenseiterinnen im überwiegend weißen Frankreich, was schon an den Menschen im Gerichtssaal sichtbar ist. Beide haben einen hellhäutigen Partner und schwierige Beziehungen zu ihren Müttern. Rama erwartet zudem ein Kind und scheint sich unsicher zu sein, wie sie mit ihrer künftigen Mutterrolle zurechtkommen soll.
Fragmentarische Erzählweise
Hintergrund
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und hier eine Besprechung des Films "Bande de Filles – Girlhood" – Gruppen-Porträt farbiger Teenager in der Pariser Banlieue von Céline Sciamma
und hier einen Beitrag über den Film "Guelwaar" – beeindruckendes Konfessionsstreit-Drama aus dem Senegal von Ousmane Sembène.
Das alles wird sehr fragmentarisch mit sparsamen Dialogen sowie einigen Rückblenden und Ausschnitten aus anderen Filmen erzählt. Zum Beispiel dem „Medea“-Film (1969) von Pier Paolo Pasolini mit Maria Callas in der Hauptrolle – solche Einsprengsel werden jedoch nicht näher erläutert.
Am Ende kein Urteil
Regisseurin Diop eröffnet in ihrem Film ein weites Feld an Vermutungen. Es geht ihr nicht darum, einfache kausale Erklärungen für eine Untat zu finden, die letztlich kaum zu erklären ist – wohl nicht einmal für die Täterin selbst. Ob es nun eine psychische Erkrankung, der Druck unerfüllbarer Erwartungen oder schlicht Gefühlskälte war, die Laurence Coly zu ihrer Tat trieb, bleibt offen. Konsequenterweise wird am Ende auch kein Urteil verkündet.