Lydia Tár (Cate Blanchett) hat es geschafft. Sie ist eine erfolgs- und preisgekrönte Komponistin, und nachdem sie die wichtigsten US-Orchester dirigiert hat, leitet sie nun – als erste Frau überhaupt – ein großes deutsches Symphonieorchester. Begleitet von ihrer Assistentin Francesca (Noémie Merlant) pendelt sie zwischen ihrem Wohnsitz in Berlin, ihrem Lehrstuhl in New York und Auftritten auf der ganzen Welt.
Info
Tár
Regie: Todd Field,
158 Min., USA 2023;
mit: Cate Blanchett, Nina Hoss, Noémie Merlant
Weitere Informationen zum Film
Heimliche Kleptomanin
Doch so ganz im Reinen scheint sie mit sich und der Welt nicht zu sein. Dauernde Anspannung steht ihr ins Gesicht geschrieben, zur Freude scheint sie kaum fähig, ebenso wenig zur Empathie. Selbst ihre Tochter bleibt ihr fremd, und die Beziehung zu ihrer Lebensgefährtin und 1. Violinistin Sharon (Nina Hoss) ist abgekühlt. Dazu kommen Zwangshandlungen – wie zum Beispiel ihre verheimlichte Kleptomanie.
Offizieller Filmtrailer
#metoo, aber anders
Während eine frühere Geliebte ihr mit verzweifelten Anrufen nachstellt, umwirbt sie ihrerseits die neue Cellistin Olga Metkina (Sophie Kauer). Da zeichnet sich ein Muster ab. Als die Verstoßene sich das Leben nimmt, wird der Fall ruchbar, und aus der Pionierin Tár wird der Problemfall Tár. Lydias sorgsam zusammengefügtes Leben zerfällt, aber unterkriegen lässt sie sich nicht.
Für diesen #metoo-Fall mit umgekehrten Gender-Vorzeichen hat sich Regisseur Todd Field in die Welt der klassischen Musik begeben. In dieser Branche ist die Konkurrenz hart: Seilschaften sind beim Aufstieg üblich, und Sex entscheidet mitunter über Jobs und Aushilfs-Engagements. Die sorgfältige Inszenierung dieser Interessen-Netzwerke gelingt Field mit seinem Film ausgezeichnet.
Keine Sympathieträger
Dass der New Yorker Kritiker-Papst Alan Gopnik sich selbst spielt, ist gewissermaßen ein Authentizitäts-Siegel und gibt den Ton der ersten anderthalb Filmstunden vor: Standesgemäß elitär fließt der Diskurs über Klassiker, Karrieren und legendäre Konzerte vor sich hin. Es geht um Frauen in der Männerdomäne, um Gustav und Alma Mahler, um Bach und seine 20 Kinder, und um Leonard Bernstein, den Lydia natürlich „Lenny“ nennen darf – er gilt als ihr Mentor. Und immer wieder geht es unterschwellig um Herkunft und Identität.
Je mehr das Drama aber seinen Lauf nimmt, desto mehr erinnert Társ vergebliche Schadensbegrenzung an einen Polit-Thriller, in dem es keine Sympathieträger gibt. Das gilt allemal für die Hauptfigur. Cate Blanchetts Darstellung ist bis ins letzte Mundwinkelzucken austariert. Deutlich sichtbar hält ihre Figur Dämonen in Schach, deren Wesen sich nur erahnen lässt – wenn sie auch an der Herausforderung, überzeugend wie ein Klassik-Star zu dirigieren, spektakulär scheitert.
Neukölln-Tristesse + Großbürger-Kälte
Lydia empfindet offensichtlich Angst und Ekel vor Armut – aber es wird keine Urverletzung ausgeleuchtet, keine Katharsis heilt die Wunden. Distanziert und an wichtigen Stellen entlarvend verfolgt die Kamera das Geschehen und weidet sich an den schönen Räumen, in denen Lydia Tár ihr Powerplay betreibt. Im Lockdown-Jahr 2021 konnte ausgiebig in der Berliner und in der Dresdner Philharmonie gedreht werden, für das Finale ging es auf die Philippinen. Und zur Abwechslung hebt sich der Schauplatz Berlin von den üblichen Klischees der Stadt ab – Neuköllner Trostlosigkeit wird vielleicht etwas übertrieben dargestellt, großbürgerliche Kälte dagegen wird perfekt eingefangen.
Hintergrund
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Am Ende Schmunzeln und Fragen
Als letzter Film, der so erschöpfend der Frage nachgeht, was einen altmodischen und aufwändigen Klangkörper überhaupt zusammenhält, wäre wohl Fellinis „Orchesterprobe“ von 1979 zu nennen. „Tár“ mit seinem informierten Blick hinter die Kulissen ist aber eher eine ernste Kino-Variante der amüsanten TV-Serie „Mozart in the Jungle“. Allerdings geht es nicht nur um Machtmechanismen: Aus den vielen Stimmen des Films allein Argumentationen zum Thema Identität und Machtmissbrauch heraushören zu wollen, würde ihm kaum gerecht.
„Tár“ stellt weiterreichende Fragen: Verdient eine traumatisierte Person, die andere schädigt, Ausschluss oder Mitleid? Begünstigt der Betrieb Manipulation und Doppelmoral? Und an welchem Punkt der Karriere kippt die Liebe zur Kunst in reine materielle und soziale Profitmaximierung? Wie „Little Children“ endet „Tár“ mit einem unerwarteten Schlussakkord zum Schmunzeln und überlässt es dem Publikum, selbst Antworten zu finden.