Cate Blanchett + Nina Hoss

Tár

Cate Blanchett (Lydia Tár) dirigiert das Orchester, in dem auch ihre Partnerin Sharon Goodnow (Nina Hoss) als Violinistin spielt. Foto: © 2022 Focus Features, LLC.
(Kinostart: 2.3.) Demontage einer Star-Dirigentin: Lydia Tár hat in der elitären Welt der klassischen Musik alles erreicht, was sie auskostet – bis sie zu weit geht. Das vielschichtige und -stimmige Psychogramm von Regisseur Todd Field besticht durch Raffinesse; in der Hauptrolle brilliert Cate Blanchett.

Lydia Tár (Cate Blanchett) hat es geschafft. Sie ist eine erfolgs- und preisgekrönte Komponistin, und nachdem sie die wichtigsten US-Orchester dirigiert hat, leitet sie nun – als erste Frau überhaupt – ein großes deutsches Symphonieorchester. Begleitet von ihrer Assistentin Francesca (Noémie Merlant) pendelt sie zwischen ihrem Wohnsitz in Berlin, ihrem Lehrstuhl in New York und Auftritten auf der ganzen Welt.

 

Info

 

Tár

 

Regie: Todd Field,

158 Min., USA 2023;

mit: Cate Blanchett, Nina Hoss, Noémie Merlant

 

Weitere Informationen zum Film

 

Doch obwohl sie bei der Auswahl ihrer Stücke weibliche Komponistinnen bevorzugt und sich selbstironisch als „U-Haul-Lesbe“ bezeichnet – womit sie wohl meint, dass sie beim Umzug ihre Plattenkisten selbst schleppt –, mag sie sich nicht in eine Schublade stecken lassen. Sie spielt ihren Einfluss als role model herunter und lässt mit einem gewissen Vergnügen durchblicken, dass sie vom emanzipatorischen Jargon der Gegenwart nicht viel hält.

 

Heimliche Kleptomanin

 

Doch so ganz im Reinen scheint sie mit sich und der Welt nicht zu sein. Dauernde Anspannung steht ihr ins Gesicht geschrieben, zur Freude scheint sie kaum fähig, ebenso wenig zur Empathie. Selbst ihre Tochter bleibt ihr fremd, und die Beziehung zu ihrer Lebensgefährtin und 1. Violinistin Sharon (Nina Hoss) ist abgekühlt. Dazu kommen Zwangshandlungen – wie zum Beispiel ihre verheimlichte Kleptomanie.

Offizieller Filmtrailer


 

#metoo, aber anders

 

Während eine frühere Geliebte ihr mit verzweifelten Anrufen nachstellt, umwirbt sie ihrerseits die neue Cellistin Olga Metkina (Sophie Kauer). Da zeichnet sich ein Muster ab. Als die Verstoßene sich das Leben nimmt, wird der Fall ruchbar, und aus der Pionierin Tár wird der Problemfall Tár. Lydias sorgsam zusammengefügtes Leben zerfällt, aber unterkriegen lässt sie sich nicht.

 

Für diesen #metoo-Fall mit umgekehrten Gender-Vorzeichen hat sich Regisseur Todd Field in die Welt der klassischen Musik begeben. In dieser Branche ist die Konkurrenz hart: Seilschaften sind beim Aufstieg üblich, und Sex entscheidet mitunter über Jobs und Aushilfs-Engagements. Die sorgfältige Inszenierung dieser Interessen-Netzwerke gelingt Field mit seinem Film ausgezeichnet.

 

Keine Sympathieträger

 

Dass der New Yorker Kritiker-Papst Alan Gopnik sich selbst spielt, ist gewissermaßen ein Authentizitäts-Siegel und gibt den Ton der ersten anderthalb Filmstunden vor: Standesgemäß elitär fließt der Diskurs über Klassiker, Karrieren und legendäre Konzerte vor sich hin. Es geht um Frauen in der Männerdomäne, um Gustav und Alma Mahler, um Bach und seine 20 Kinder, und um Leonard Bernstein, den Lydia natürlich „Lenny“ nennen darf – er gilt als ihr Mentor. Und immer wieder geht es unterschwellig um Herkunft und Identität.

 

Je mehr das Drama aber seinen Lauf nimmt, desto mehr erinnert Társ vergebliche Schadensbegrenzung an einen Polit-Thriller, in dem es keine Sympathieträger gibt. Das gilt allemal für die Hauptfigur. Cate Blanchetts Darstellung ist bis ins letzte Mundwinkelzucken austariert. Deutlich sichtbar hält ihre Figur Dämonen in Schach, deren Wesen sich nur erahnen lässt – wenn sie auch an der Herausforderung, überzeugend wie ein Klassik-Star zu dirigieren, spektakulär scheitert.

 

Neukölln-Tristesse + Großbürger-Kälte

 

Lydia empfindet offensichtlich Angst und Ekel vor Armut – aber es wird keine Urverletzung ausgeleuchtet, keine Katharsis heilt die Wunden. Distanziert und an wichtigen Stellen entlarvend verfolgt die Kamera das Geschehen und weidet sich an den schönen Räumen, in denen Lydia Tár ihr Powerplay betreibt. Im Lockdown-Jahr 2021 konnte ausgiebig in der Berliner und in der Dresdner Philharmonie gedreht werden, für das Finale ging es auf die Philippinen. Und zur Abwechslung hebt sich der Schauplatz Berlin von den üblichen Klischees der Stadt ab – Neuköllner Trostlosigkeit wird vielleicht etwas übertrieben dargestellt, großbürgerliche Kälte dagegen wird perfekt eingefangen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Carol" - ergreifendes lesbisches US-Liebesdrama in den 1950er Jahren von Todd Haynes mit Cate Blanchett

 

und hier eine Besprechung des Films "Das Vorspiel" - Drama über überehrgeizige Geigenlehrerin von Ina Weisse mit Nina Hoss

 

und hier einen Beitrag über den Film "Lara" - beklemmend intensives Psychogramm einer überehrgeizigen Pianisten-Mutter von Jan-Ole Gerster mit Corinna Harfouch + Tom Schilling

 

Interessanterweise sind seit der letzten Regiearbeit Fields – der auch als Filmkomponist und Schauspieler in Erscheinung trat – schon 17 Jahre vergangen: „Little Children“ von 2006 war eine Tragikomödie aus Suburbia. Nun porträtiert er, als hätte er die Zwischenzeit ausschließlich zur Recherche genutzt, einen Winkel des Kulturbetriebs, der – im Gegensatz zu Theater, Malerei, Popmusik oder Film selbst – sehr selten im Mittelpunkt eines Spielfilms steht: ein Symphonieorchester.

 

Am Ende Schmunzeln und Fragen

 

Als letzter Film, der so erschöpfend der Frage nachgeht, was einen altmodischen und aufwändigen Klangkörper überhaupt zusammenhält, wäre wohl Fellinis „Orchesterprobe“ von 1979 zu nennen. „Tár“ mit seinem informierten Blick hinter die Kulissen ist aber eher eine ernste Kino-Variante der amüsanten TV-Serie „Mozart in the Jungle“. Allerdings geht es nicht nur um Machtmechanismen: Aus den vielen Stimmen des Films allein Argumentationen zum Thema Identität und Machtmissbrauch heraushören zu wollen, würde ihm kaum gerecht.

 

„Tár“ stellt weiterreichende Fragen: Verdient eine traumatisierte Person, die andere schädigt, Ausschluss oder Mitleid? Begünstigt der Betrieb Manipulation und Doppelmoral? Und an welchem Punkt der Karriere kippt die Liebe zur Kunst in reine materielle und soziale Profitmaximierung? Wie „Little Children“ endet „Tár“ mit einem unerwarteten Schlussakkord zum Schmunzeln und überlässt es dem Publikum, selbst Antworten zu finden.