Es gibt doch kaum ein größeres Kino-Glück als ein Film, der konsequent eine eigene Welt erstehen lässt: eine Welt mit eigener Logik, eigenen Gesetzen und eigener Historie, allein mit den Mitteln der Filmkunst erschaffen und bis zum Abspann fesselnd. Solchen rar gewordenen Welten-Erfindungen ist der Beifall sicher: Mit sieben Oscars wurden vor zwei Wochen die Regisseure Daniel Kwan und Daniel Scheinert für ihre hochtourige SciFi-Komödie „Everything Everywhere, All At Once“ belohnt.
Info
The Ordinaries
Regie: Sophie Linnenbaum,
120 Min., Deutschland 2023;
mit: Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker
Weitere Informationen zum Film
Filmset als Klassengesellschaft
Die Welt in „The Ordinaries“ ist eine Klassengesellschaft. An der Spitze stehen die „Hauptfiguren“; sie haben eine eigene Storyline, viel Text und ein gutes Leben in schönen Häusern. „Nebenfiguren“ haben dagegen nur wenige Textzeilen und müssen tagein, tagaus dieselben Aufgaben erledigen, die alle nur den Storylines der „Hauptfiguren“ dienen. „Statisten“ haben gar keinen Text, rein dekorative Funktion und nach Feierabend ein besonders eintöniges Dasein.
Offizieller Filmtrailer
Automatische Gefühlsuntermalung
Und dann gibt es noch die „Outtakes“, die überall herausgeschnitten wurden, weil sie den Standards nicht entsprechen. Da spricht einer mit verzerrtem Ton, eine andere ist schlecht ausgeleuchtet, und ein weiterer muss wohl noch aus der VHS-Zeit stammen, so miserabel ist seine Auflösung. Sie leben in Ghettos außerhalb der Stadt und müssen dort unsichtbar mithelfen, diese Kulissenwelt aufrecht zu erhalten.
Mit leichter Hand führt der Film in diese zweifellos vom Filmhochschulalltag geprägte Welt ein, zumeist aus der Perspektive der 16-jährigen Paula (Fine Sendel). Sie will unbedingt „Hauptfigur“ werden und besucht dafür eine entsprechende Schule. Für viel Geld hat sie sich sogar eine Vorrichtung am Herzen implantieren lassen, die dafür sorgt, dass ihre Emotionen automatisch mit einfühlsamer Orchestermusik aus dem Off unterlegt werden.
Reise wie Alice im Wunderland
Doch Paula hat ein Problem: In letzter Zeit rutscht die Streichersoße zu ihren Probemonologen in misslungenen Jazz ab. Offenbar sind ihre Emotionen nicht echt. Tatsächlich hat Paula Zweifel am System. Zum Beispiel wurde ihr jahrelang erzählt, ihr Vater, eine „Hauptfigur“, sei einst von aufsässigen „Outtakes“ getötet worden. Doch als sie Nachforschungen anstellt, muss sie feststellen, dass alle Aufnahmen von ihm aus dem Archiv gelöscht wurden.
Auf ihrer Suche weicht sie immer mehr von ihrer vorgeschriebenen Storyline ab. Sie gerät tiefer in den Maschinenraum ihrer Klassengesellschaft, lernt die „Outtakes“ und ihr würdeloses Leben kennen und findet schließlich die Wahrheit über ihren Vater heraus. Diese Suche entspricht recht genau den Erlebnissen der Heldinnen in Fantasy-Jugendromanen wie Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“. Aber das Drehbuch würzt sie mit einer nicht enden wollenden Abfolge von Ideen und visuellen Späßen, die sich allesamt aus der Konstruktion einer Filmset-Welt speisen.
Fernsehspiel im retro-futuristischen Rahmen
So muss Henning Peker als „Fehlbesetzung“ im Dienstmädchenkostüm herumlaufen und ist in Wahrheit natürlich hervorragend besetzt. Aber selbst wenn die Pointen auf der Kalauer-Ebene zünden, haben sie ihre Funktionen im Getriebe der größeren Geschichte. Diese ist im besten Sinne pädagogisch aufgebaut und wendet sich zuvörderst an ein jugendliches Publikum. Sie nährt sich aber aus dem Fundus der Vergangenheit; so macht der Film auch älteren Semestern Spaß.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Everything Everywhere All At Once" – hochgelobte Multiversum-Actionkomödie von Daniel Kwan + Daniel Scheinert, prämiert mit sieben Oscars
und hier eine Besprechung des Films "Blutsauger" – originell historische Vampirkomödie von Julian Radlmaier
und hier einen Beitrag über den Film "Weitermachen Sanssouci" – clevere Wissenschaftsbetrieb-Satire von Max Linz
und hier einen Bericht über den Film "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" – grotesk-ironische Filmemacher-Sittenkomödie von Julian Radlmaier.
Welt voller non-player character
Diese von den Schriftstellern George Orwell und Aldous Huxley geprägte Tradition der Science-Fiction als Bühne für Lehrstücke überträgt Regisseurin Linnenbaum elegant in die Digitalmedien-Gegenwart. Zwar werden Computer und Internet in der Handlung wohlweislich ausgespart, ihre Wirkung auf Jugendliche aber einkalkuliert.
Teenager bezeichnen heutzutage unauffällige Zeitgenossen gern als „NPC“: non-player character ist ein Begriff aus der Welt der Computerspiele und steht für automatisierte Figuren, die den Spielern das Leben schwerer oder leichter machen. Das Haupt- und Nebenfigur-Schema von „The Ordinaries“ ist eine andere Metapher für dasselbe Phänomen: Medienstars und Privilegierten wird in unserer Gesellschaft ein höherer Wert beigemessen als Arbeitslosen, Obdachlosen oder Geflüchteten.
Düster-tröstliches Finale
Dass dies nicht so sein sollte, ist die Lehre, die Paula aus ihrer Suche zieht – nicht etwa: „Schreib doch deine eigenen Storyline“, was dem tradierten Hollywood-Schema entspräche. Die Lösung, die die Geschichte anbietet, besteht allerdings nicht aus der gewaltsamen Überwindung des Systems. Stattdessen mündet Paulas Story in ein metaphysisches und unterschwellig düsteres Finale – das dabei so tröstlich und gemeinschaftssinnig ausfällt wie eine Inszenierung des Berliner GRIPS-Jugendtheaters.