Patricio Guzmán

Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume

Anhaltende Proteste und Kampf um neue Verfassung in Chile. Foto: © Copyright: Real Fiction Filmverleih
(Kinostart: 13.4.) Kämpfen für eine bessere Zukunft: Vor vier Jahren wurde Chile von einer Protestwelle überrollt. Regisseur Patricio Guzmán schlägt einen Bogen von der Allende-Regierung über die Pinochet-Diktatur bis zur aktuellen Situation – für ein sehr persönliches, aber auch recht einseitiges Zeitdokument.

Ein Tropfen brachte das Fass zum Überlaufen: Eine Preiserhöhung für U-Bahn-Fahrscheine in Santiago de Chile löste 2019 vehemente Proteste aus. Der schon lange gärende soziale Unmut breiter Bevölkerungsschichten führte zu Massendemonstrationen. Denn obwohl Chile zu den wirtschaftlich erfolgreichsten und politisch stabilsten Ländern Lateinamerikas gehört, ist es wie alle anderen Länder des Subkontinents auch von eklatanter struktureller sozialer Ungleichheit geprägt.

 

Info

 

Mi País Imaginario –
Das Land meiner Träume

 

Regie: Patricio Guzmán,

88 Min., Chile/ Frankreich 2022;

 

Weitere Informationen zum Film

 

Der Versuch, diese im Grunde seit der spanischen Kolonialeroberung im 16. Jahrhundert bestehenden, ungerechten Besitzverhältnisse grundlegend zu revidieren, wurde von der Regierung Salvador Allendes (1908-1973) unternommen. Bekanntermaßen wurden die Reformansätze – die schon damals in dem tief gespaltenen Land umstritten waren – durch den Militärputsch von Augusto Pinochet (1915-2006) im Keim erstickt. Statt eine linke Agenda umzusetzen, wurde das Land in den 1980er Jahren zur Spielwiese der sogenannten Chicago Boys, die sich an den neoliberalen Ideen des Ökonomen Milton Friedmans orientierten. Doch auch in den drei Jahrzehnten nach Ende der Diktatur 1989 änderten diverse Regierungen rechter und linker Ausrichtung nichts Wesentliches an den bestehenden Ungleichheiten.

 

Erinerungen an die Diktatur

 

Die Härte, mit welcher die Regierung 2019 unter dem damaligen Präsidenten Sebastián Piñera auf die Sozialproteste reagierte, erinnerte wiederum viele Chilenen an die Jahre der Diktatur. Zwischen Polizei und Militär auf der einen und Demonstranten auf der anderen Seite scheint es keinerlei Verständigung zu geben. Es sind separate Welten. Die Demonstranten sprechen von den Polizisten nur abwertend als pacos (Bullen) während man auf Doku-Aufnahmen sieht, wie die Polizei erbarmungslos auf Protestierende einprügelt.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Lebensthema des Regisseurs

 

Diese Sprachlosigkeit zwischen den gesellschaftlichen Lagern ist auch symptomatisch für „Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume“. Gezeigt wird ausschließlich die Sicht der Protestierenden. Eine journalistische Befragung der Gegenseite findet nicht statt, ebenso wenig wie eine Einordnung des Geschehens für ein Publikum, das nicht mit dem chilenischen Kontext vertraut ist.

 

Diese Einseitigkeit ist aus der Biografie des Dokumentarfilmers Patricio Guzmán heraus durchaus verständlich: Die Auseinandersetzung mit den Folgen der Pinochet-Diktatur ist das Lebensthema des über 80-Jährigen. Er begann seine Laufbahn als Regisseur mit einem Film über Allende („Primer año“, 1971) und dokumentierte anschließend den Putsch und seine Auswirkungen in einer gefeierten Trilogie („Der Kampf um Chile“, 1975/76/79) und vielen anderen Werken; zuletzt „Die Kordillere der Träume“ (2019).

 

Mehr Zeitdokument als Analyse

 

Nur mit knapper Not entkam Guzmán nach dem Putsch nach Europa, seitdem lebt er vorwiegend in Frankreich. Die Proteste 2019/20 schlagen für ihn einen Bogen zu dem gewaltsam abgebrochenen Reformversuch vor 50 Jahren. Die Hoffnung der von ihm porträtierten Menschen auf einen grundlegenden Wandel ist auch seine eigene, wie er im Off-Kommentar immer wieder kundtut.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Kordillere der Träume" – assoziativer Dokumentation über Chiles Anden + Geschichte von Patricio Guzmán

 

und hier eine Besprechung des Films  "Der Perlmuttknopf" – exzellenter Essay-Film über die Verfolgung von Indios + Oppositionellen in Chile von Patricio Guzmán

 

und hier einen Beitrag über den Film "¡No!" – packendes Polit-Drama über die Absetzung von Diktator Pinochet in Chile von Pablo Larraín.

 

Das macht den Film zu einem sehr persönlichen Zeitdokument mit viel linker Protestromantik, aber nicht zu einer kritischen Analyse der bestehenden Verhältnisse und ihrer Ursachen. Stattdessen gelingen Guzmán in ihrer Unmittelbarkeit sehr mitreißende Szenen der Proteste. Man spürt förmlich die Energie und Wut der Menschen, sieht aber auch die Gewalt, die zwar von beiden Seiten, aber in ungleichem Maße eingesetzt wird: Steine gegen Wasserwerfer und Tränengas.

 

Fokus auf die Frauen

 

Daneben interviewt Guzmán verschiedene Aktivistinnen und richtet seinen Blick damit auf die starke Beteiligung von Frauen an den Demonstrationen. Als Mütter tragen sie oftmals die Hauptlast der prekären Lebensbedingungen und haben darüber hinaus die Nase gehörig voll vom machismo lateinamerikanischer Prägung. Der Slogan „El estado opresor es un macho violador“ („Der Unterdrückerstaat ist ein vergewaltigender Macho“), der während der Proteste viral ging, drückt die Wut vieler Frauen über die Verhältnisse aus.

 

Um sie grundlegend zu verändern, setzten die Protestierenden die Einberufung einer neuen verfassungsgebenden Versammlung durch; die aktuelle Verfassung stammt noch aus den Zeiten der Diktatur. Der Film endet mit der Wahl des jungen, linken Hoffnungsträgers Gabriel Boric zum Präsidenten im Dezember 2021. Die Wirklichkeit hat den Film mittlerweile überholt: Der Entwurf einer neuen Verfassung wurde im Herbst 2022 von einer breiten Bevölkerungsmehrheit abgelehnt. Ob und inwiefern die Proteste von 2019/20 einen fundamentalen Wandel in Chile ausgelöst haben, wird sich wohl erst im Verlauf etlicher Jahre zeigen.