Berlin

Paris Magnétique 1905 – 1940

Amedeo Modigliani: Porträt der Dédie, 1918, Öl auf Leinwand. Copyright:, MNAM - Centre Pompidou
Eine Hauptstadt macht Schule: In der Zwischenkriegszeit war die französische Kapitale zum wohl letzten Mal das Zentrum der Kunstwelt. Welch großen Anteil jüdische Migranten dazu beitrugen, zeigt das Jüdische Museum Berlin in einer glänzend gegliederten, so detailreichen wie anschaulichen Ausstellung.

In unserer globalisierten und zugleich fragmentierten Welt kann man sich derlei kaum noch vorstellen: dass eine einzige Stadt der unbestrittene Nabel der Kunstwelt war. Dorthin zogen alle, die etwas werden wollten; dort entstanden die wichtigsten neuen Stile und Strömungen, wurde eifrig über sie debattiert – dort fanden ehrgeizige Künstler Anerkennung und gewiefte Kunsthändler Absatz für deren Werke. Diese Stadt mit geradezu magnetischer Anziehungskraft war bis zum Zweiten Weltkrieg Paris.

 

Info

 

Paris Magnétique 1905 – 1940

 

25.01.2023 - 01.05.2023

täglich 10 bis 19 Uhr

im Jüdischen Museum Berlin, Lindenstr. 9-14

 

Katalog 28 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Nicht erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts, wie der Ausstellungstitel suggeriert. Sondern eigentlich schon 300 Jahre zuvor: Spätestens mit der Entstehung des Absolutismus wurde Frankreich für ganz Europa zum Vorbild in allen kulturellen Belangen – und dank seiner zentralistischen Regierungsform die Hauptstadt Paris zum Zentrum der schönen Künste. Das blieb sie auch nach der Revolution 1789 und dem endgültigen Ende der Monarchie 1871: Pariser Salonkunst, Realismus, Impressionismus und Art Nouveau dekorierten das bürgerliche Zeitalter.

 

Neuer Zustrom von Migranten

 

Insofern schrieben die Avantgarden ab 1900 nur eine lang währende Tradition fort. Allerdings, und das war neu, mit vielen ausländischen Migranten, die sich nun scharenweise in Paris niederließen. Den großen Anteil, den Künstler jüdischer Herkunft dazu beitrugen, beleuchtet die Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin (JMB) – sie wurde aus dem Pariser Musée d’art et d’histoire du Judaisme (MAHJ) übernommen, wo sie 2021 unter dem Titel „Chagall, Modigliani, Soutine … Paris pour école 1905 – 1940“ zu sehen war.

Impressionen der Ausstellung bei der ersten Station im Musée d’art et d’histoire du Judaïsme, Paris; © Patricia Carles


 

Mustergültig aufbereitete Präsentation

 

Der französische Titel lockt mit den Namen der drei berühmtesten Künstler in der Schau. Die deutsche Version ist sachgerechter: Sie betont die Magnetwirkung, die Paris europaweit ausübte. Deren Ausmaß detailliert vorzuführen, ist das Verdienst dieser Ausstellung: Sie kreist eben nicht um eine Handvoll Starkünstler, sondern fächert das verwickelte Beziehungsgeflecht von mehr als 30 jüdischen Malern und Bildhauern auf, die in der Zwischenkriegszeit in Paris wirkten – samt etlicher nichtjüdischer Kollegen plus Fotografen, Kunstkritikern und anderen.

 

Ohne ausgiebiges namedropping wäre das kaum möglich. Damit man nicht den Überblick verliert, ist die Ausstellung ausgezeichnet gegliedert: in elf Kapitel mit summarischen Einleitungstexten, die von Schwerpunkten und Exkurs-Kabinetten weiter unterteilt werden; ergänzt durch knappe Erläuterungen zu allen Exponaten. So können die Besucher selbst entscheiden, wie tief sie in einzelne Aspekte einsteigen – ohne zu riskieren, den Anschluss zu verlieren, wenn sie manches überspringen. Das MAHJ bereitet sein Material mustergültig publikumsfreundlich auf; davon können sich textverliebte deutsche Kuratoren einiges abschauen.

 

Milieu-Rekonstruktion mit Zweitrangigen

 

Was nicht bedeutet, dass es an Schauwerten mangelt. Amadeo Modigliani, dem neben Chagall populärsten der gezeigten Künstler, ist ein eigener Abschnitt gewidmet – zurecht, deutsche Museen besitzen nur wenige Beispiele seiner flächig-gelängten Porträtmalerei. Ähnlich verhält es sich mit Chaim Soutine: Seine eigentümlich deformierten und dadurch umso ausdrucksstärkeren Bildnisse sind hierzulande selten zu sehen – schon gar nicht ein brachiales Glanzstück wie das Hochformat „Le bœuf écorché“ („Das gehäutete Rind“, 1925), das seinen kunsthistorischen Vorläufer – Rembrandts Schlachtrind im Louvre – an Drastik deutlich überbietet.

 

Indessen geht es hier nicht um eine Parade von Spitzenstücken, sondern um die Rekonstruktion eines höchst produktiven Milieus. Dem dienen zahlreiche Werke von Malern aus der zweiten und dritten Reihe wie Vladimir Baranoff-Rossiné, Léon Indenbaum, Pinchus Krémègne und manchen anderen. Dabei wird deutlich, wie rasch Innovationen aufgegriffen, verbreitet und auch verwässert wurden – so dass man gut versteht, dass Künstler sich nach einigen Jahren von einem Stil abwandten, weil seine Formensprache banalisiert worden war.

 

Wimmelbilder anstelle von Frauenakten

 

Oder ihm umgekehrt ihren persönlichen Stempel aufdrückten: Den ursprünglich von Picasso und Georges Braque für ihre Malerei erfundenen Kubismus entwickelten Jacques Lipchitz und Ossip Zadkine im Medium der Skulptur eindrucksvoll fort. Sonia Terk trieb ihren farbenfroh Expressionismus so weit ins Nichtfigurative, dass sie gemeinsam mit ihrem Mann Robert Delaunay ab 1912 den Orphismus als ihre eigene Spielart der Abstraktion schuf.

 

Ihrem Bestreben, das Zeittypische herauszuarbeiten, ordnet die Ausstellung durchaus Künstler-Egos unter. So ist der aus Bulgarien emigrierte Jules Pascin nicht mit seinen berühmt-berüchtigten Frauenakten vertreten, sondern mit gezeichneten Wimmelbildern aus dem Nachtleben – Pascin war ein Salonlöwe, der keine Party und keinen Ball ausließ. Für die Goldenen Zwanziger, auf Französisch „les années folles“ („die verrückten Jahre“) genannt, stehen auch Zeichnungen von Lou Albert-Lasard, die wie konventionelle Karikaturen wirken.

 

Internationale Kunst- + Literatur-Republik

 

Was war an solcher Kunst jüdisch? Diese Frage löste schon seinerzeit Streit aus. 1923 hatte das Leitungskomitee des Salon des Independants beschlossen, künftig Exponate nicht mehr alphabetisch nach Malernamen, sondern nach Nationalitäten anzuordnen – schon dagegen war heftig protestiert worden. Zwei Jahre später trat der nationalistische Mercure de France mit dem Artikel „Existe-t-il une peinture juive?“ („Gibt es eine jüdische Malerei?“) eine erbitterte Kontroverse los. In deren Verlauf prägte der Kunstkritiker André Warnod den Begriff „École de Paris“: Ihr gehörten Künstler nicht qua Pass, sondern durch ihre Modernität an.

 

„Wir setzen uns über alle Grenzen hinweg; was kümmert uns, ob ein Kamerad Jude, Russe, Chinese oder Franzose ist? Die Originalität von Montparnasse ist ja gerade, dass es alle Künstler der Welt anzieht in die große französische Gemeinschaft. Es ist vielleicht der einzige Ort auf der Welt, an dem eine echte internationale Republik der Literatur und der Kunst existiert. Das sind die Gründe für den Erfolg von Montparnasse“, formulierten zwei seiner Bewohner, der Autor Géo Charles und der Künstler Auguste Clergé, in einem Brief 1921.

 

Aus dem Bienenkorb ins Café

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Chagall – Welt in Aufruhr" - Werkschau des jüdischen Künstlers in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900" - hervorragende Überblicksschau mit Werken etlicher Avantgarde-Künstler in der Schirn, Frankfurt am Main

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Otto Freundlich - Kosmischer Kommunismus" - eindrucksvolle Retrospektive des 1943 in Sobibor ermordeten jüdischen Künstlers in Köln + Basel

 

und hier einen Bericht über die "Neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin" mit zahlreichen Werken jüdischer Künstler im JMB, Berlin.

 

Nicht nur durch diese Multikulturalität hatte Montparnasse am linken Seine-Ufer dem vorher beliebten Künstler-Quartier Montmartre ab 1900 den Rang abgelaufen, sondern auch durch handfeste Gründe: In Montparnasse waren die Ateliers billiger. Etwa im dreistöckigen Rundbau La Ruche (Der Bienenkorb), den der Bildhauer Alfred Boucher 1902 in eine Künstlerkolonie umgewandelt hatte: Er bot 200 Künstlern 140 Ateliers, die sie sich teilten.

 

Zu wenig idyllischen Bedingungen: „Ein Haufen aus Steinen, unterschiedlichen Stühlen und anderen kaputten Möbeln lehnte seine Armseligkeit an die Wände dieser Trauer-Institution“, schrieb Ossip Zadkine in seinen Lebenserinnerungen. Immerhin wurde kein Bewohner je wegen nicht gezahlter Miete vor die Tür gesetzt. Und Kontakte knüpfen oder Ideen ausbrüten konnte man ohnehin besser in den legendären Künstler-Cafés an der Kreuzung der Boulevards Montparnasse und Raspail, etwa Le Dôme oder La Rotonde.

 

Nazis zerschlagen Magnetwirkung

 

Diese fiebrig kreative Bohème-Atmosphäre endete schlagartig mit der Besetzung von Paris durch die Wehrmacht 1940. Das gesamte Geistesleben litt darunter, insbesondere aber die jüdischen Künstler. Sie wurden verfolgt, interniert und ermordet, wie etwa 1943 der Feuerkopf Otto Freundlich, der mit der Utopie eines „Kosmischen Kommunismus“ eine originelle Variante abstrakter Kunst erfunden hatte.

 

Oder der gemäßigte Expressionist Rudolf Levy, der nach langem Paris-Aufenthalt 1940 nach Italien ging, wo er drei Jahre später von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz verfrachtet wurde. Vom NS-Kahlschlag sollte sich auch Paris nicht mehr erholen: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde New York zur neuen Welthauptstadt der Kunst.