Stuttgart

Von Liebe und Krieg – Tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt

Kostüm eines tamilischen Koothu-Schauspielers; Foto: ohe
Südindien ist eine Welt für sich – und hierzulande kaum bekannt. Das will das Linden-Museum ändern: mit einer Einführung in die traditionsreiche Kultur der Tamilen. Beim Versuch, sämtliche Aspekte darzustellen, verhebt sie sich etwas: Die farbenfrohe Reizüberflutung wird erst im Katalog schlüssig erklärt.

Indien – das ist Hindi und Sanskrit, Mango-Lassi und Mutton Curry, Brahmanen und Kastensystem, Taj Mahal und die Paläste in Rajasthan, nicht wahr? Nein: So ist Nordindien, doch es wird von Europäern meist mit dem ganzen Subkontinent gleichgesetzt. Zu Unrecht: Südindien unterscheidet sich erheblich. Ohnehin ist Indien alles andere als ein Einheitsstaat: Die Kompetenzen der Zentralregierung in Neu-Delhi sind eng begrenzt, das Meiste regeln die 28 Bundesstaaten allein. Sie werden sogar durch Zollgrenzen voneinander getrennt.

 

Info

 

Von Liebe und Krieg – Tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt

 

08.10.2022 - 07.05.2023

täglich außer montags 10 bis 17 Uhr,

sonn- und feiertags bis 18 Uhr,

mittwochs bis 20 Uhr

im Linden-Museum, Hegelplatz 1, Stuttgart

 

Katalog 29,90 €

 

Weitere Informationen

 

All das ist hierzulande wenig bekannt. Umso verdienstvoller ist die Ausstellung, die das Linden-Museum den Eigenheiten Südindiens widmet: am Beispiel der Tamilen. Ihr Bundesstaat Tamil Nadu mit der Hauptstadt Chennai (bis 1996 Madras) hat etwa die Fläche von Griechenland, ist aber mit 72 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste im Süden und der siebtgrößte in ganz Indien. Mit überdurchschnittlichem Pro-Kopf-Einkommen und Bildungsstand: 80 Prozent der Tamilen sind alphabetisiert.

 

Tamil-Renaissance Ende des 19. Jh.

 

Sie blicken auf eine altehrwürdige und reiche kulturelle Vergangenheit zurück. Indiens Südspitze wurde nie länger von islamischen Herrschern regiert, so dass Moslems wie Christen nur eine kleine Minderheit bilden; je etwa sieben Prozent der Bevölkerung. Zudem zählt Tamilisch wie die Idiome der Nachbarvölker zu den dravidischen Sprachen; sie sind nicht mit der indoarischen Sprachfamilie in Nordindien verwandt. Diese Entdeckung von Linguisten löste Ende des 19. Jh. die „Tamil-Renaissance“ aus: Einheimische Gelehrte edierten klassische, bis zu 2000 Jahre alte Texte erstmals in Buchform und machten sie damit zugänglich.

Impressionen der Ausstellung


 

Dravidische Bewegung für eigenen Staat

 

Mit dieser Wiederaneignung des Kulturerbes setzt auch die Ausstellung ein; angefangen mit der so genannten Sangam-Literatur der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Von ihr leitet auch die Schau ihren Titel ab: Sie war in agam-Liebesdichtung und puram-Kriegerdichtung unterteilt. Beiden Genres wurden je fünf Landschaften zugeordnet: von Bergen und Wäldern über Äcker und Küsten bis zu Wüsten – eine poetische Kartierung der Welt.

 

Die kulturelle Renaissance zog bald soziale und politische Forderungen nach sich. Einige maßgebliche Protagonisten des Unabhängigkeitskampfes gegen die britische Kolonialmacht kamen aus Tamil Nadu. Der prominenteste unter ihnen war Erode Venkata Ramasamy (1879-1973), genannt Periyar („der Große“). Er führte ab 1927 die „Selbstachtungs-Bewegung“ an, die ein säkular sozialreformerisches Programm vertrat und den orthodoxen Hinduismus des Brahmanentums ablehnte. Aus ihr ging die „Dravidische Bewegung“ für einen eigenen Tamilen-Staat hervor.

 

50 Jahre lang von Kinogrößen regiert

 

Politischen Ausdruck fand sie in der 1949 gegründeten DMK-Partei und der AIADMK, die sich 1972 von ihr abspaltete. Beide Regionalparteien wechseln sich seit 1967 an der Regierung ab – bis 2017 unter der Führung von vier Kinoleuten: zwei Drehbuchautoren als DMK-Chefs sowie eines Star-Schauspielers und einer -Schauspielerin auf Seiten der AIADMK. Ein halbes Jahrhundert lang bestimmten Leinwandgrößen die Politik; das belegt den überragenden Einfluss des tamilischen Kinos, dessen Filmindustrie zu den drei bedeutendsten in Indien zählt, wovon eine Wand voller Kinoplakat-Projektionen nur eine schwache Ahnung vermittelt.

 

Anschaulicher sind Video-Ausschnitte des Koothu-Theaters, bei dem nächtelang Episoden des Mahabharata-Epos aufgeführt werden. Ein farbenfroh-bizarres Koothu-Kostüm mitten im Saal dient als Blickfang. Dagegen erscheinen locker über die Schau verteilte Bilder und Skulpturen zeitgenössischer Künstler des „Madras Art Mouvement“ etwas freihändig eingestreut – erst beim genauen Hinsehen begreift man den Kontext, in dem sie stehen.

 

Saalhohe Tempelturm-Reproduktionen

 

Drumherum ist ein verwinkeltes Labyrinth aus Kabinetten arrangiert, überbordend mit Werbetafeln und Fototapeten dekoriert; sie erinnern an ein Dorfzentrum oder Krämerviertel. Hier kommt – von Musik untermalt – allerlei Alltagskultur zur Sprache; von der Küche und traditioneller Heilkunde über Kleidung und Schmuck bis zu Porträtfotografie. Trotz des Aufwands bei dieser Inszenierung bleibt sie jedoch blass: Gerichte muss man kosten und Stoffe anfassen, um die Sinne nachhaltig zu kitzeln.

 

Gesammelte Stille herrscht hingegen in der größten Abteilung, die der Religion gewidmet ist. Saalhohe Reproduktionen zeigen die Spitzenwerke der Tempelbaukunst in Tamil Nadu. Der Brihadishvara-Tempel mit seinem 61 Meter hohen Vimana-Turm wurde im 11. Jh. in der Stadt Thanjavur errichtet, die Gopuram-Tortürme des Minakshi-Tempelkomplexes von Madurai im 16./17. Jh.. Allerdings fallen die Erläuterungen zu Aufbau und Symbolik dieser architektonischen Wunderwerke arg knapp aus.

 

Figuren-Hofstaat zum Fest wie Krippen

 

Wie diejenigen zu Götterskulpturen aus Bronze und Holz, die in verschwenderischer Fülle ausbreitet sind. Erklärungen gehen eher auf ihre Attribute und Stellung im hinduistischen Pantheon als auf ihre ästhetischen Qualitäten ein. Selbst wenn sie spektakulär sind; etwa bei einer Basalt-Plastik von Vishnu, der im kosmischen Milch-Ozean ruht, beschirmt von fünf Kobra-Köpfen des Schlangengottes Shesha. Oder bei einem unfassbar detailreich beschnitzten Tempelportal aus Madurai: 27 kleine Holzkassetten zeigen ebenso viele Vishnu-Avatare.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Dämonen und Wunder - Dheepan" - brillanter Flüchtlings-Thriller über eine tamilische Familie von Jacques Audiard

 

und hier ein Interview über den Film "Dämonen und Wunder - Dheepan" mit Hauptdarsteller Antonythasan Jesuthasan: "Mein Dorf existiert nicht mehr"

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Indiens Tibet - Tibets Indien: Das kulturelle Vermächtnis des Westhimalaya" – großartige Überblicks-Schau im Linden-Museum, Stuttgart

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Indien entdecken!" - faszinierend facettenreiche Ausstellung über Kunst des Subkontinents von den 1960er Jahren bis zur Gegenwart in der Zitadelle Spandau, Berlin

 

und hier einen Bericht über den Film "Fascinating India (3D)" - Doku-Rundfahrt zu klassischen Reisezielen von Alexander Sass + Simon Busch.

 

Am Ende des Abschnitts springen Ensembles aus Dutzenden von bonbonbunten Pappmaché-Figuren ins Auge, die Götter und mythologische Gestalten darstellen. Sie werden auf treppenartigen Podesten zum kolu arrangiert, was „Hofstaat“ bedeutet – aus Anlass des beliebtesten hinduistischen Festes, das auf Tamil navarattiri heißt und zehn Tage dauert. Familien, die es sich leisten können, kaufen jedes Jahr weitere Exemplare für ihre Sammlung; dieser Brauch ähnelt den aufwändigen Krippen, die zur Weihnachtszeit vor allem in Südeuropa populär sind.

 

Bürgerkrieg wird kaum beleuchtet

 

Im Kontrast zu dieser farbenprächtigen Figurenparade wird das traurigste Kapitel der neueren Tamilen-Geschichte kaum beleuchtet: der Bürgerkrieg auf Sri Lanka von 1983 bis 2009 mit geschätzt 100.000 Todesopfern. Das verwundert umso mehr, als dieser 26 Jahre dauernde Konflikt zwischen Singhalesen und Tamilen das ist, was hiesige Besucher am ehesten mit letzteren verbinden. Mehr noch: Die drei bis vier Millionen Tamilen, die in dem Inselstaat leben, kommen in der Ausstellung nirgends vor.

 

Obwohl sie den im Westen wohl bekanntesten Tamilen herbeizitiert: Anthonythasan Jesuthasan spielte die Hauptrolle in „Dämonen und Wunder – Dheepan“. Der brillante Sozial-Thriller von Regisseur Jacques Audiard gewann 2015 die Goldene Palme beim Filmfestival in Cannes; er wirkte so authentisch, weil Jesuthasan früher jahrelang in der Guerillatruppe „Befreiungstiger von Tamil Eelam“ (LTTE) gekämpft hatte. Dazu wird er im Katalog ausführlich interviewt – doch die Ausstellung belässt es bei einer Vitrine mit vagen Angaben, als wolle sie das triste Thema eher unter den Teppich kehren.

 

Im Katalog steht alles drin

 

Ohnehin gleicht der Rundgang einem Zickzackkurs; manche Aspekte werden ausführlich ausgebreitet, andere nur angetippt. Dieses Wechselbad der Eindrücke erinnert an die Reizüberflutung, die westliche Touristen in Indien erwartet: Alles ist überwältigend eindrucksvoll, bleibt aber unerklärlich fremd. Abhilfe schafft der bündig formulierte und großzügig illustrierte Katalog: Da steht alles drin, um das Gesehene zu verstehen.