Darren Aronofsky

The Whale

Charlie (Brendan Fraser) lebt sehr zurückgezogen. Foto: Plaion Pictures GmbH
(Kinostart: 27.4.) Moby Dick mit Pizza-Kartons: Regisseur Darren Aronofsky porträtiert einen Fettleibigen, der im Home Office vor sich hindämmert – bis ihn seine vernachlässigte Tochter und ein Jungmissionar heimsuchen. Für seine Verkörperung der 300-Kilo-Hauptrolle erhielt Brendan Fraser einen Oscar.

Beim Online-Kurs bleibt das Chat-Fenster des Literatur-Lehrers Charlie (Brendan Fraser) schwarz. Gegenüber seinen Studenten begründet er das damit, dass seine Webcam kaputt sei. Eine glatte Lüge – obwohl seine erste Forderung an die zukünftigen Autorinnen und Autoren lautet, bei ihrer Arbeit immer wahrhaftig zu bleiben. Allerdings ist es mit der Wahrhaftigkeit so eine Sache, wenn es fast unmöglich ist, zu sich selbst zu stehen.

 

Info

 

The Whale 

 

Regie: Darren Aronofsky,

117 Min., USA 2022;

mit: Brendan Fraser, Sadie Sink, Ty Simpkins, Hong Chau

 

Website zum Film

 

Charlie geht seit Jahren nicht mehr aus dem Haus. Seit dem Tod seines Partners Alan, für den er einst Frau und Kind verließ, hat er sich von der Welt zurückgezogen und ist – begünstigt durch Trauer und Schuldgefühle – Opfer einer extremen Fettleibigkeit geworden. Mit 300 Kilogramm Lebendgewicht bewegt er sich nur noch mühsam auf eine Gehhilfe gestützt zwischen Sofa, Küche, Bad und Schlafzimmer hin und her. Seine Gestalt und Gegenwart möchte er niemandem mehr zumuten – auch wenn Szenen, in denen er sich doch einmal zu voller Größe aufbaut, durchaus erhebend anmuten.

 

Gay-Pornos vor Erlösungsversprechen

 

Außer an seinem Online-Seminar findet er inzwischen vor allem an Gay-Pornos Gefallen. Zu ihnen versucht er zu masturbieren, wobei ihn die Erregung fast umbringt. Da erscheint es als Glücksfall, dass gerade, als Charlie kurz vorm sexbedingten Herzinfarkt ist, der Jungmissionar Thomas (Ty Simpkins) an seine Tür klopft, um ihm den Weg zur Erlösung zu weisen.

Offizieller Filmtrailer


 

Diagnose: Tod in wenigen Tagen

 

Die interessiert Charlie erstmal weniger; dafür bittet er den freundlichen Fremden, ihm einen Aufsatz zum 1851 erschienenen Roman „Moby Dick“ von Herman Melville vorzulesen, statt den Krankenwagen zu rufen. Der Text deutet den vermeintlich langweiligen Hauptteil des Klassikers so, dass die ausufernden Beschreibungen des Walfangs den Leser vor den wirklichen Schrecken von Leben und Begehren schützen sollen. Für den Literaturlehrer stellt diese Interpretation den größten vorstellbaren Trost dar.

 

Sein Dahinvegetieren wird Charlie durch die tatkräftige Unterstützung seiner einzigen und unglaublich loyalen Freundin ermöglicht, der Krankenschwester Liz (großartig: Hong Chau). Sie hält all seine körperlichen und seelischen Leiden mit ihm aus, sagt ihm aber angesichts seiner aktuellen Blutdruckwerte einen Tod binnen weniger Tage voraus.

 

Übergewichtiger im Rampenlicht

 

Ins Krankenhaus zu gehen, lehnt Charlie jedoch ab, weil er sich eine Krankenversicherung nicht leisten könne – was gleichfalls gelogen ist, wie sich herausstellen wird. Von dieser letalen Diagnose lenkt ihn die nächste Pizza-Fressattacke ab. Später taucht seine Tochter Ellie (Sadie Sink) bei ihm auf, die er seit Jahren weder gesehen noch gesprochen hat. Dennoch soll sie nun alles sein, wofür sich sein Leben gelohnt haben könnte. Wild entschlossen nimmt Charlie den Kampf um ihre Aufmerksamkeit für sich und sein Schicksal auf.

 

Brendan Fraser hat für seine Darstellung des depressiv adipösen Protagonisten im März den Oscar für den besten Hauptdarsteller erhalten. Ebenfalls prämiert wurde seine Maske, die vor allem aus einem tatsächlich sehr natürlich wirkenden fatsuit besteht. Damit rückt der Film einen Vertreter der gerade in den USA großen Gruppe der Übergewichtigen ins Rampenlicht, die ansonsten in Produkten der Popkultur kaum eine (Haupt-)Rolle spielt.

 

Nervende Streicher-Melodramatik

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films Films "mother!" - alptraumhafter Horrortrip einer Schwangeren von Darren Aronofsky

 

und hier eine Besprechung des Films "Noah - Das Ende ist erst der Anfang" - eigenwillige Bibel-Verfilmung mit Russell Crowe von Darren Aronofsky

 

und hier das Interview "Schwanensee als Halluzinogen-Trip" mit Darren Aronofsky über seinen Ballett-Psychothriller "Black Swan" mit Natalie Portman

 

Doch mit der Sichtbarkeit ist es ebenso eine Sache wie mit der Wahrhaftigkeit. Darren Aronofsky ist bekannt dafür, mit seinen Filmen – etwa „The Wrestler“ (2008), „Black Swan“ (2010), „mother!“ (2017) – zu polarisieren. Das liegt nicht nur an der Auswahl von Themen und Sujets, sondern vor allem auch an seiner häufig auf Schockeffekte spekulierenden Umsetzung.

 

In „The Whale“ weidet sich die Kamera so ausführlich an Körper und Alltagsschwierigkeiten des Protagonisten, dass es allein dem nuancierten Spiel Frasers zu verdanken ist, dass der Film nicht zur freakshow mutiert, also zur Mitleid heischenden Vorführung von Absonderlichkeiten. Gegen den Hauptdarsteller arbeitet jedoch die Tonspur: Enervierende Streicher-Soße soll jeden dramatischen Moment ins Melodramatische überhöhen.

 

US-Volkskrankheit hysterische Religiosität

 

Für die fast zwei Stunden, die man mit Charlie in seiner dunklen Wohnhöhle verbringt, braucht man also viel Durchhaltevermögen. Erfreulich ist immerhin, dass hier einmal ein Coming-out nicht nur aus der Sicht des sich neu findenden Individuums gefeiert, sondern auch seine längerfristigen Folgen für das gesamte Umfeld betrachtet werden. Zudem nimmt der Film eine weitere US-Volkskrankheit – nämlich hysterisch übersteigerte, evangelikale Religiosität – und daraus resultierende soziale Probleme ernst. Schade nur, dass der Schluss zu viele Erzählstränge unplausibel zusammenbindet, um mit erlösendem Trost zu enden.