Michal Blaško

Victim

Die alleinerziehende Ukrainerin Irina (Vita Smachelyuk) lebt gemeinsam mit ihrem 13-jährigen Sohn Igor in einer tschechischen Kleinstadt. Foto: Rapid Eye Movies
(Kinostart: 6.4.) Wie eine Hexenjagd entsteht: Ein Migranten-Junge in Tschechien wird schwer verletzt, Schuld sind angeblich Roma – seine Mutter tritt ungewollt eine rassistische Kampagne los. Gewissensbisse und Gruppendynamik zeigt Regisseur Michal Blaško schnörkellos neorealistisch.

Für ihren Sohn würde Irina (Vita Smachelyuk) über Leichen gehen, so viel steht fest. Igor (Gleb Kuchuk) ist 13 Jahre alt, Wettkampfturner, ihr ganzer Stolz – und das Einzige, was ihr nach der Trennung von ihrem Mann geblieben ist. Deshalb kann sie auch nicht ruhig im Bus sitzenbleiben, mit dem sie aus der Ukraine in ihre Wahlheimat Tschechien zurückeilt – Igor liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Als er an der Grenze im Stau steckt, steigt sie gegen den Rat des Busfahrers aus und fragt sich so lange bei den Leuten in der Schlange durch, bis sie schließlich jemanden findet, der sie mitnimmt.

 

Info

 

Victim

 

Regie: Michal Blaško,

91 Min., Slowakei/ Tschechien/ Deutschland 2022;

mit: Vita Smachelyuk, Gleb Kuchuk, Igor Chmela, Viktor Zavadil

 

Weitere Informationen zum Film

 

Auf der Intensivstation angekommen, traut sie ihren Augen kaum. Igor ist noch bewusstlos und hat gerade eine Operation hinter sich – der Arzt wird ihr später erklären, dass er eine Niere verloren hat. Angeblich wurde er von drei jugendlichen Roma zusammengeschlagen. Die Polizei ermittelt bereits in dem Fall. Ein Kommissar stellt dem noch völlig benommenen Jungen ein paar Fragen und versichert Irina, dass er nach den Tätern suchen wird.

 

Aufruhr in der Plattenbausiedlung

 

Die Geschichte zieht ihre Kreise – im Internet und in den Nachrichten; ein Protestmarsch wird organisiert. Die Nachbarn in der Plattenbausiedlung, ihre Freunde, ein engagierter Aktivist und sogar die Bürgermeisterin, die eine politische Chance wittert, solidarisieren sich mit der besorgten Mutter. Die Unterstützung kommt Irina nicht ungelegen: Sie schlägt sich als Reinigungskraft durch – aber träumt davon, mit einer Freundin einen Friseursalon zu eröffnen.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Grauer Himmel und trübes Gewissen

 

Irina beginnt zu erkennen, dass sie zum Spielball zwischen den Fronten wird. Gleichzeitig durchkreuzt ein Geständnis ihres Sohnes all ihre Pläne: Er erzählt ihr unter vier Augen, was in der besagten Nacht tatsächlich zu seinem Sturz vom Treppengeländer geführt hat. Aber für die Wahrheit ist es jetzt längst zu spät. Ihr Antrag auf Einbürgerung in Tschechien – bereits ihr zweiter Versuch – ist gefährdet, abermals abgelehnt zu werden. Also setzt Irina alles daran, ihr quälendes Gewissen zu ignorieren, und gibt sich stattdessen den rassistischen Fiktionen hin, die sich um den Vorfall hochgeschaukelt haben.

 

Michal Blaško Spielfilmdebüt konzentriert sich auf Irinas moralische Krise. Formal greift Regisseur Blaško den Stil des rumänischen Neorealismus der Nuller und Zehner Jahre auf. Viele Einstellungen sind mit der Handkamera gedreht, um authentisch zu wirken; ein grauer Winterhimmel und trübe Farben bestimmen das Bild. Doch die Aufregung der ersten Einstellungen legt sich, je vertrackter und festgefahrener die Situation für Irina wird – etwa als sich die Polizei weigert, einen Roma-Jungen aus ihrer Nachbarschaft freizulassen, von dem sie weiß, dass er unschuldig ist.

 

Fake News als Wahrheit

 

Indem Blaško sich ganz auf das Wechselbad der Gefühle seiner Protagonistin konzentriert, will er „die mitteleuropäische Gesellschaft entlarven, für die sie zeitweise zur Galionsfigur wird“ – so hat er es selbst formuliert. Die Akteure im Film haben nichts Böses im Sinn und handeln mit vermeintlich besten Absichten. Es geht vielmehr darum, was Vorurteile und Notlügen in den Zeiten von Massenmedien und Fake News anrichten können, und um die Frage, wer wen erfolgreicher manipuliert.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Judgment - Grenze der Hoffnung" - episches Flüchtlingsdrama in Bulgarien von Stephan Komandarev

 

und hier eine Besprechung des Films "Just the wind - Csak a szél" - Drama über eine Roma-Familie in Ungarn von Bence Fliegauf

 

und hier einen Beitrag über den Film "Newo Ziro - Neue Zeit" - Dokumentation über Sinti + Roma in Deutschland von Robert Krieg + Monika Nolte.

 

Die Frage, wer die Verantwortung für den Verlauf der Affäre trägt, ist komplex: Igors Erklärung ist verständlich, nur kommt sie zu spät. Und Irina sieht keinen Ausweg aus dem Dilemma, weil sie ihren Sohn und ihre Existenz zu schützen versucht. Doch nicht nur Gewissensbisse belasten sie, sondern auch das Erschrecken darüber, dass sie ihren Mitmenschen ungewollt einen Vorwand geliefert hat, um aufgestauten Frust und unterdrückte Wut zu entladen.

 

Gebrochenes Dasein im engen Sozialbau

 

Die schlichte Inszenierung lenkt die Aufmerksamkeit ganz auf Vita Smachelyuk. Sie spielt Irina wie eine Kriegerin in eigener Sache – ihre emphatische Darstellung verleiht dem Film seine Kraft. Sie kämpft mit dem Herzen einer Löwin, doch die Angst und ihre Verzweiflung über ihr eigenes Fehlverhalten sitzen ihr stets wie ein stechender Schmerz im Nacken, der sich nicht heilen, kaschieren oder abstellen lässt.

 

Irina wird zur Marionette in einem Spiel, dessen Regeln andere geschrieben haben und das sie nicht gewinnen kann. Die Enge des heruntergekommen Sozialbaus, in dem Mutter und Sohn leben, und der chronische Wasserschaden an ihrer Wohnungsdecke sind Hinweise auf ein Gemeinwesen, das viele Bürger ungerührt im Stich lässt. Trotzdem kämpft sie weiter, bis zum Schluss. Und man bleibt ihr emotional verbunden, weil ihr innerer Konflikt so nachvollziehbar und menschlich ist.