A.V. Rockwell

A Thousand and One

Inez de la Paz (Teyana Taylor) hat ihren Sohn Terry (Aaron Kingsley Adetola) aus dem Pflegeheim entführt. Credit: Courtesy of Aaron Ricketts/Focus FeaturesRicketts/Focus Features
(Kinostart: 18.5.) Löwenmutter in Harlem: In ihrem Spielfilmdebüt begleitet Regisseurin A.V. Rockwell eine Patchwork-Familie durch ihren Alltag zwischen Gentrifizierung, Polizeiwillkür und Hoffnung. Die mitreißend aufspielende Hauptdarstellerin hält den Film auch in holprigen Momenten zusammen.

Als Inez (Teyana Taylor) 1994 aus dem New Yorker Gefängnis Rikers Island entlassen wird, ist sie gerade einmal 22 Jahre alt. Wie sie dort gelandet ist, erfährt der Zuschauer nicht. Für den Handlungsverlauf scheint das aber auch irrelevant zu sein. Die so abgehärtete wie impulsive Afroamerikanerin aus Brooklyn schaut nach vorne und will sich nicht unterkriegen lassen. Auch wenn ihre ehemalige Chefin ihr keinen Job als Haarstylistin mehr gibt und sie zunächst nicht einmal ein Dach über dem Kopf hat.

 

Info

 

A Thousand and One

 

Regie: A.V. Rockwell,

119 Min.USA 2023;

mit: Teyana Taylor, Will Catlett, Josiah Cross, Aven Courtney

 

Weitere Informationen zum Film

 

Und obwohl ihr Sohn Terry (als Sechsjähriger: Aaron Kingsley Adetola) sich auf einer Odyssee durch Kinderheime und Pflegefamilien befindet – ein Schicksal, das sie ihm fortan ersparen möchte. Schließlich ist sie selbst unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen. Trotzdem scheint sie eher einem spontanen Impuls als einem ausgeklügelten Plan zu folgen, als sie ihn entführt. Denn eigentlich hat sie genug damit zu tun, ihr eigenes Leben zu ordnen – und vor allem nicht wieder im Gefängnis zu landen.

 

Neustart in Harlem

 

Sie zieht mit dem Jungen nach Harlem, wo niemand die frischgebackene Patchwork-Familie kennt, zu der bald auch Inez’ Freund Lucky (William Catlett) gehört. Allen Unwägbarkeiten zum Trotz gelingt es den dreien, sich ein neues Leben aufzubauen. Der introvertierte Terry (mit 17: Josiah Cross) entwickelt sich bestens, trotz des psychischen Gepäcks, das er offenbar mit sich herumschleppt. Seine Lehrerin findet sogar, dass er aufgeweckt genug für ein Studium an einer Elite-Uni sei. Sie ermutigt ihn, sich in Harvard oder am MIT (Massachusetts Institute of Technology) zu bewerben.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Rhythmus der Großstadt

 

Eine eindimensionale amerikanische Selbstermächtigungsgeschichte ist der Film dennoch nicht. Das Langfilmdebüt der Regisseurin und Drehbuchautorin A.V. Rockwell erweist sich tatsächlich als bemerkenswert facettenreich – nicht zuletzt durch einen stimmigen Blick, den es auf das Leben in den afroamerikanisch geprägten Wohnvierteln wirft. Die Stadt wirkt fast wie ein weiterer Protagonist in der Geschichte. Mit Gefühl für ihren Rhythmus und ihre natürliche Lebendigkeit fängt die Regisseurin die Atmosphäre von sonst wenig ausgeleuchteten Ecken ein.

 

Dass Rockwell den Regisseur Spike Lee zu ihren Vorbildern zählt, überrascht insofern nicht, da der mit atmosphärisch aufgeladenen Großstadt-Filmen wie „Do The Right Thing“ (1989) oder auch „Summer of Sam“ (1999) das New Black Cinema prägte. Der Regisseurin führt zudem eindrücklich vor, wie  schwer es ist, ein Kind in einer armen Wohngegend großzuziehen. Etwa, wenn der jugendliche Terry immer wieder in anlasslose Polizeikontrollen gerät, die, wie die Statistik belegt, überproportional häufig Latinos und Afroamerikaner treffen.

 

Willkür und Verdrängung

 

Dieses sogenannte stop and frisk-Programm – „anhalten und filzen“ – hat Rudy Giuliani eingeführt, der New Yorker Bürgermeister der Jahre 1994 bis 2001 und spätere Trump-Anwalt. Sie wurde aber auch unter seinem demokratischen Nachfolger Michael Bloomberg umfänglich von der Polizei eingesetzt. Diese Aspekte des Lebens erzählt „A Thousand And One“ auf eine Weise mit, die gerade durch ihre Beiläufigkeit eine subtile Wucht entwickelt – auch wenn der Film dadurch bisweilen etwas zerfasert.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Beale Street" – Verfilmung eines Romans von James Baldwin über Diskriminierung in den USA von Barry Jenkins

 

und hier eine Besprechung des Films  "Moonlight" - Coming-of-Age-Drama eines schwarzen Ghetto-Kid von Barry Jenkins, Oscar für den besten Film 2017

 

und hier einen Beitrag über den Film  "Nächster Halt: Fruitvale Station" – Doku-Drama über die Erschießung eines US-Schwarzen von Ryan Coogler.

 

Auf ähnliche Weise wird in Szene gesetzt, wie sich die Gentrifizierung in den elf Jahren, in denen die Geschichte abspielt, unaufhaltsam durch die Stadt frisst: Wo anfangs die Geräuschkulisse von einer vitalen Straße mit Geschäften und Nachbarschaftsbegegnungen zeugt, brummt bald vor allem der Baulärm. Auch Inez’ Lebenssituation wird nach einer Weile wieder prekär: Plötzlich hängt das Damoklesschwert der Verdrängung über der Familie.

 

Melodramatischer Hakenschlag

 

Auf den letzten Metern entwickelt sich der Film dann zum veritablen Melodram. Aufhänger dafür ist eine Offenbarung, die ein dickes Fragezeichen hinter die Erzählung von der tapferen Löwenmutter setzt, die es ihrem Kind zuliebe mit der ganzen Welt aufnimmt. Ob es diesen Hakenschlag wirklich gebraucht hätte – darüber ließe sich wohl streiten. Doch er verleiht der Geschichte emotionale Komplexität und rückt Inez’ Motivation in ein neues Licht.

 

Die einzige Schwäche des Films ist, dass die Wechsel zwischen den verschiedenen angerissenen Themenfeldern nicht immer geschmeidig wirken, sondern oft etwas holprig. Doch auch in solchen Momenten wird das Drama, das Anfang des Jahres den Wettbewerb des Sundance Festival gewann, immer noch von der eindrucksvollen Performance von Hauptdarstellerin Teyana Taylor zusammengehalten.