İlker Çatak

Das Lehrerzimmer

Carla Nowak (Leonie Benesch, mi.) muss sich im Kollegium rechtfertigen. Foto: Alamode Film / Judith Kaufmann
(Kinostart: 4.5.) Gute Vorsätze als Weg in die Hölle: Das Scheitern einer Junglehrerin inszeniert Regisseur İlker Çatak als punktgenaue Studie der Eskalation von Vorwürfen, die alle Beteiligten überrollt. Darin brilliert Leonie Benesch als Berufsanfängerin, die über ihren Übereifer stolpert.

Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, weiß der Volksmund. Und die junge Lehrerin Carla Nowak (Leonie Benesch) ist fest entschlossen, alles richtig zu machen. Seit kurzem unterrichtet sie am Gymnasium eine 7. Klasse in Mathematik und Sport. Ihren Schülern begegnet sie dabei auf Augenhöhe; im Umgang mit ihnen setzt sie auf teambildende Maßnahmen statt auf Autorität und Frontalunterricht.

 

Info

 

Das Lehrerzimmer

 

Regie: İlker Çatak,

98 Min., Deutschland 2022;

mit: Leonie Benesch, Michael Klammer, Rafael Stachowiak

 

Weitere Informationen zum Film

 

Im Kollegium macht sie sich allerdings mit ihrem Übereifer nicht unbedingt beliebt. Noch ist Carla frei von der Desillusionierung und Frustration vieler Lehrerinnen und Lehrer, die schon länger ihren Beruf ausüben. Als es an der Schule zu Diebstählen kommt, stößt ihr Idealismus jedoch an Grenzen. Die ehrgeizige Berufsanfängerin ist empört, als ihre Kollegen zu grenzwertigen Mitteln greifen, um den Langfinger zu erwischen.

 

Beschuldigung zieht weite Kreise

 

Doch wenig später geht sie selbst einen recht fragwürdigen Schritt, um die Sache aufzuklären; ihre Beschuldigung zieht weite Kreise. Ob Carlas Vorwurf zutrifft oder nicht, bleibt offen. Regisseur İlker Çatak, der schon seine ersten beiden Filme „Es war einmal Indianerland“ (2017) und „Es gilt das gesprochene Wort“ (2019) mit originellen Ansätzen drehte, ist nicht an Standard-Situationen oder gar einer klassischen Tätersuche interessiert.

Offizieller Filmtrailer


 

Vermessung einer ethischen Grauzone

 

Stattdessen hat Çatak „Das Lehrerzimmer“ als punktgenaue und packende Studie einer Eskalation angelegt. Nachdem sie in Gang gekommen ist, rollt sie wie eine unaufhaltsame Lawine über alle Beteiligten – Lehrkräfte, Schüler, Eltern – hinweg. Dabei hegen alle Protagonisten aufrichtige Absichten, die ihr Handeln verständlich und nachvollziehbar machen. Dennoch nimmt das Verhängnis seinen Lauf, wobei die schwächsten Beteiligten unter die Räder zu kommen drohen: die Kinder.

 

Mit seiner Präzision und Ambivalenz erinnert Çataks Film an die komplexen Beziehungsdramen des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi: Wer ist schuld? Niemand. Alle. Trotzdem führt diese Vermessung einer ethischen Grauzone nicht zu moralischer Beliebigkeit. Als Carla ihren Fehler bemerkt, versucht sie die wohlfeile Empörung wieder einzudämmen, die sie ungewollt losgetreten hat. Doch deren Dynamik ist nicht mehr aufzuhalten. So kommentiert der Film auch die heutige, sich hysterisch hochschaukelnde Social-Media-Streitkultur, die oft in Schwarz-Weiß-Schemata steckenbleibt.

 

Schule als Chiffre für Systemzwang

 

Trotz allem versucht die Lehrerin, integer zu bleiben und die Verantwortung für die Folgen ihres Handelns zu übernehmen. Ihre Aufrichtigkeit bleibt indessen ungewürdigt und von den meisten auch unbemerkt; ihre Mitmenschen irritiert eher, dass sie nicht nur ihre eigene Haut retten will. Carlas zunehmende Beklemmung wird akustisch von atonalen Streicherklängen unterstrichen. Derweil fährt die Kamera meist in den engen Räumen und Gängen der Schule auf und ab, was klaustrophobisch erscheint.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Es gilt das gesprochene Wort" – nüchternes Drama über eine Scheinehe von İlker Çatak

 

und hier eine Besprechung des Films "Es war einmal Indianerland" – Coming-of-Age-Story über jungen Boxer von İlker Çatak

 

und hier einen Bericht über den Film "Eingeschlossene Gesellschaft" – gelungene Sittenkomödie über Schul-Geiselnahme von Sönke Wortmann

 

und hier einen Beitrag über den Film "A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani" – komplexes Schuld-Sühne-Kammerspiel von Asghar Farhadi.

 

„Das Lehrerzimmer“ ist jedoch keine verfilmte Kritik am deutschen Schulwesen, zumindest nicht in erster Linie. Vielmehr fungiert die Schule hier als Chiffre für ein System, dessen Zwängen sich Menschen kaum schwer entziehen können – mit allen Licht- und Schattenseiten. Jeder Akteur muss eine festgelegte Rolle übernehmen; Spielräume sind stark begrenzt.

 

Augen spiegeln Affektkontrolle

 

Das erfährt auch Carla schmerzlich. Dass der Zuschauer mit ihr in jeder Sekunde mitfiebert und -leidet, liegt vor allem an der fantastischen Interpretation durch Leonie Benesch. In ihren großen, ausdrucksstarken Augen spiegeln sich alle Seelenzustände ihrer Figur. Carla bemüht sich, ihre Gefühle zu kontrollieren und mit einer Mischung aus Ehrgeiz, Rigorismus und Anstand stets eine korrekte Haltung wahren – doch das fällt ihr im Fortgang der Handlung immer schwerer. Für ihre herausragende Leistung wurde Benesch verdientermaßen für den diesjährigen Deutschen Filmpreis als beste Hauptdarstellerin nominiert.

 

Wobei die übrigen Ensemblemitglieder mithalten können; insbesondere die jüngsten Darsteller beeindrucken. Kinder sind hier keine Unschuldsengel, sondern eigenständige Charaktere mit Ecken und Kanten. Allerdings bleibt ihr Wohl auf der Strecke, wenn die Erwachsenen sich in ihren Befindlichkeiten verstricken, anstatt sich um sie zu kümmern – diese Botschaft des Films ist unmissverständlich.