Valeria Bruni Tedeschi

Die Linie

Christina (Valeria Bruni Tedeschi) und ihre Tochter Margaret (Stéphanie Blanchoud) haben große Probleme miteinander. Foto: Piffl Medien
(Kinostart: 18.5.) Häusliche Gewalt, ganz ohne Männer: In ihrer bedrückenden Familienaufstellung durchleuchtet Regisseurin Ursula Meier die Eskalation eines lange schwelenden Familienkonflikts. Ritualisierte Reiz-Reaktions-Muster und die Unfähigkeit, Abstand zu gewinnen - der Film verweigert einfache Lösungsansätze.

In den Filmen der Schweizer Regisseurin Ursula Meier geht es um Familien im Ausnahmezustand. Meiers Spielfilmdebüt „Home“ (2008) zeigte eine Familie, die es sich in einem Haus an einer Autobahn-Baustelle bequem gemacht hat und zu zerbrechen droht, als das Projekt nach langen Jahren fertig gestellt wird. „Winterdieb“ (2012) beleuchtete eine prekäre Mutter-Sohn-Beziehung in einem schicken Skigebiet. Beide Filme erzählten von Gewalt, Entfremdung und dem Bemühen der Protagonisten, für sich einen Platz in der Welt zu finden. In ihrem neuen Werk „Die Linie“ ist das nicht anders.

 

Info

 

Die Linie

 

Regie: Ursula Meier,

101 Min., Schweiz/ Frankreich/ Belgien 2022;

mit: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo

 

Weitere Informationen zum Film

 

Da fliegen zunächst in Zeitlupe Gegenstände durch die Luft und zerbersten zu den Klängen einer betörenden Barock-Arie. Hier eskaliert gerade ein Streit zwischen zwei Frauen, an dessen Ende die jüngere unsanft vor die Tür gesetzt wird. Die Frauen sind Mutter und Tochter: Mama Christine (Valeria Bruni-Tedeschi) hat sehr früh ihr erstes Kind bekommen und deswegen eine Karriere als Konzertpianistin aufgegeben, was sie Tochter Margaret und ihren jüngeren Schwestern bei jeder Gelegenheit vorhält.

 

Gewaltausbruch mit Folgen

 

Christine hat sich in ihrer tragischen Rolle eingerichtet und präsentiert wie ein ewiger Teenager ständig wechselnde Liebhaber. Margaret (Stephanie Blanchoud) ist inzwischen Mitte Dreißig und kämpft immer noch um ihre Zuneigung. Die jüngeren Geschwister haben andere Wege gefunden, ihr Liebesbedürfnis zu stillen. Louise (India Hair) ist verheiratet und schwanger, während Nachzüglerin Marion (Elli Spagnolo) Halt im Gesang und im Gebet findet.

Offizieller Filmtrailer


 

Als Christine infolge der gewalttätigen Auseinandersetzung mit Margaret einen Hörschaden erleidet und nicht mehr als Klavierlehrerin arbeiten kann, nimmt sie das zum Anlass, die Älteste völlig zu ignorieren. Ein vom Gericht verhängtes Kontaktverbot erleichtert ihr den Bruch. Margaret kommt bei ihrem Ex-Freund unter; nun könnte sie durch räumliche Trennung von der Mutter endlich Ordnung und Ruhe in ihr Leben bringen.

 

Ein Kampf zwischen Frauen

 

Beim Thema häusliche Gewalt geht es fast immer um Männer als Täter. Frauen sind meist die Opfer, und wenn es eine Täterin gibt, dann eher eine skrupellose Heranwachsende. In Ursula Meiers konzentriert inszeniertem und präzise gespieltem Film aber wird der Kampf zwischen zwei Frauen ausgetragen, die scheinbar immer noch nicht erwachsen sind. Dabei benimmt sich Margaret eher wie ein Junge und verstärkt diesen Eindruck optisch mit kurzen Haaren und derben Stiefeln. Sie ist in ihrer Rebellionshaltung gefangen, so wie auch die exaltierte Mutter in ihrer selbst gewählten Opferrolle.

 

Die wird von ihr in passiv-aggressiver Manier immer wieder thematisiert. Um von ihren Töchtern Dankbarkeit einzufordern, verpackt sie ihre Vorwürfe in beiläufige Bemerkungen oder bedeutungsvolle Seufzer. Männer haben in diesem vergifteten Familiengefüge nur eine temporäre Statistenrolle, denn Christina braucht alle Aufmerksamkeit für sich. Margarets Rage ist umso verständlicher, da Mutters Verhalten vor allem die halbüchsige Marion schwer verunsichert. Hinter dem buchstäblichen Umsichschlagen der Ältesten verbirgt sich natürlich eine im Grunde empfindsame Seele, die bisher nur selten eine andere Sprache als die der physischen Gewalt gefunden hat.

 

Gesang in der Kälte

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Winterdieb" - über elternlose Kinder in den Schweizer Alpen, Gewinner des Silbernen Bären 2012, von Ursula Meier 

 

und hier eine Besprechung des Films "Sommer 85" - tragische Romanze über erste Jugendliebe von François Ozon mit Valeria Bruni Tedeschi als überfürsorglicher Mutter

 

und hier einen Beitrag über den Film  "We need to talk about Kevin" – hypnotisches Drama über gestörte Mutter-Kind-Beziehung von Lynne Ramsay mit Tilda Swinton, Europäischer Filmpreis 2011

 

Nur die kleine Schwester Marion hält zu ihrer Mutter und malt eine hellblaue Linie auf den Boden, damit die Kontaktsperre wirklich eingehalten wird. Genau diese hundert Meter Abstand  könnten Margaret die nötige Abnabelung von der Mutter ermöglichen. Die lenkt sich, statt nach dem großen Streit in sich zu gehen, lieber mit einem jungen Liebhaber ab. Margarets Habseligkeiten lässt sie außerhalb des Bannkreises abladen. Hier, auf einem kleinen Hügel in zur familiären Atmosphäre passender winterlicher Kälte, bezieht Margaret nun wörtlich Stellung. Hier trifft sie sich mit ihrer kleinen Schwester, um mit ihr Gesang zu üben.

 

Die letzte verbliebene Verbindung zum Haus der Mutter, das wie auf einem Tableau frei vor einem verschneiten Berg steht, ist das Verlängerungskabel des Gitarrenverstärkers. Nur noch ihre Liebe zur Musik verbindet Mutter und Tochter; sie könnte ein wesentlich produktiveres Ventil für Margaret darstellen als die Gewalt. Einen Hinweis darauf gibt ein kurzer, berührender Konzertauftritt der jungen Frau. Ihr Potential aber erkennt nur der ihr immer noch freundschaftlich verbundene Ex-Freund (Musiker Benjamin Biolay). Er ist einer der wenigen Menschen, denen wirklich etwas an ihr liegt.

 

Ende ohne Lösungsansatz

 

Bei einem anderen Regisseur, einer anderen Regisseurin würde diese verfahrene Konstellation wenigstens in eine Art von Lösungsansatz münden. Ursula Meier bleibt sich aber auch in dieser Geschichte treu, indem sie diese geradezu unwirklich dysfunktionale Familie nach einem intensiven, sezierenden Einblick wieder sich selbst überlässt – und das Publikum seinen Gedanken.