Leipzig

Dimensions – Digital Art since 1859

Emmanuel Carlier: The man with red hair (Detail), Installationsansicht DIMENSIONS – Digital Art since 1859. © Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Foto: Alexander Schippel
Irgendwas mit High-Tech machen: Eine von Datenkraken gesponserte Schau in den Pittlerwerken jubelt Digitalkunst zur neuen Klassik hoch. Schön wär‘s: Nur wenigen Beiträgen gelingt der Brückenschlag zu relevanten Aspekten realen Lebens - etliche erschöpfen sich in Augenpulver und Tekkie-Talk.

Informatik ist zur Leitkultur unserer Epoche geworden. Ihre Gurus glänzen öfter mit großmäulig plumpen Prognosen, die vom Publikum ehrfürchtig geglaubt werden. Wenn der weltberühmte Auto- und Raketenbauer Elon Musk voraussagt, demnächst verschwände die Hälfte aller Jobs, zittern alle um ihren Arbeitsplatz. Und wenn KI-Entwickler ein Moratorium fordern, damit künstliche Intelligenz nicht außer Kontrolle gerate, befürchten viele ihre Selbstabschaffung durch alleskönnende Sprech- und Schreibautomaten.

 

Info

 

Dimensions - Digital Art since 1859

 

19.04.2023 - 09.07.2023

täglich außer montags +
dienstags 10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr

in den Pittlerwerken, Pittlerstr. 26, Leipzig

 

Katalog 35 €

 

Website zur Ausstellung

 

Ähnlich vollmundig trumpft die Digitalkunst-Schau „Dimensions“ in Leipzig auf. Zwar scheinen die Kuratoren uneins zu sein, ob sie nun eine „neue Klassik“ oder einen „neuen Klassizismus“ ausrufen wollen – zumal sich beide deutlich unterscheiden: Klassik setzt ästhetische Standards; Klassizismus knüpft daran an, um sich damit aufzuwerten. Doch dass alles Digitale ganz wichtig und wegweisend ist, darin sind sich die Macher einig – wobei es sich „weniger um einen neuen Trend, sondern vielmehr um eine Konstante der Kunstgeschichte handelt, die immer schon vom Dialog neuer Technologien und künstlerischer Ausdrucksweisen geprägt war“. Sieh einer an!

 

Großindustrie spendet für -ausstellungen

 

Dieser Aplomb bei der Verkündung des Selbstverständlichen passt zum Initiator Walter Smerling. Mit seiner „Stiftung für Kunst und Kultur“ veranstaltet er seit Jahrzehnten abseits des üblichen Kunstbetriebs Großausstellungen zu diversen Themen: mal gelungen wie „China 8″ (2015) in neun NRW-Museen, mal weniger wie „Luther und die Avantgarde“ – diese Schau wurde weitgehend ignoriert wie die meisten Beiträge zum Lutherjahr 2017. Derlei finanziert Smerling meist durch Spenden der Großindustrie. Sein Berliner Kunsthallen-Projekt „Diversity United“ (2021/2) geriet in heftige Kritik: zu hoher Landesmittel-Zuschuss, keine Honorare für die Künstler – und ausgerechnet Moskau als zweite Station der Wanderschau.

Impressionen der Ausstellung


 

Digital-Überwachung bleibt außen vor

 

Für „Dimensions“ hat Smerling das US-Unternehmen Palantir und die Deutsche Telekom als Großsponsoren gewonnen; dass letztere eine Image-Aufwertung durch Kunstförderung gebrauchen kann, bedarf keiner Erläuterung. Palantir erstellt und vertreibt Software, mit denen sich massenhaft Daten analysieren lassen. Sie werden für Überwachung und Kontrolle eingesetzt, auch in autoritären Staaten – und genau diese Aspekte digitaler Anwendungen kommen in der Leipziger Ausstellung kaum vor. Dafür hagelte es ebenfalls Kritik.

 

Stattdessen wird im ausgedehnten Gebäudekomplex der Pittlerwerke, in denen vor 100 Jahren Werkzeugmaschinen hergestellt wurden, „Digitalkunst seit 1859″ präsentiert. Ein gewagter Scherz: Damals fotografierte der Bildhauer François Willème Personen gleichzeitig mit 24 im Rund aufgestellten Kameras, um damit die Anfertigung von Skulpturen zu vereinfachen. Der Vergleich mit heutigen 3D-Scans mag nicht ganz abwegig sein – doch Willèmes Verfahren war rein analog.

 

High-Tech-Kunst altert schlecht

 

Wie viele der 60 gezeigten Werke: Die Schau scheut vor einer Definition von Digitalkunst zurück. Lieber tischt sie allerlei auf, was mit High-Tech seit 1970 zu tun hat: Bis zu 50 Jahre alte Videokunst, „algorithmisch-generative Kunst“ und Roboterkunst – was immer das sein mag -, Immersives sowie „Virtual and Augmented Reality“. Das Spektrum reicht von Filmen, die René Viénet 1972 mit schrägen Kalauern neu untertitelte, über Video-Skulpturen von Nam June Paik aus den 1980er Jahren und aktuellen Found-Footage-Bildergewittern von Lu Yang bis zu eigens konstruierten Räumen, in denen die Besucher mit betäubenden visuellen und akustischen Reize aus allen Rohren zugedröhnt werden.

 

Was weniger überrascht, als die Urheber gern hätten. Auffallenderweise altern solche Arbeiten – die meisten entstanden vor einigen bis etlichen Jahren – schlecht: Die technische Entwicklung verläuft so rasant, dass Ideen, die bei ihrer Entstehung frisch und originell erschienen, inzwischen altbacken wirken. Das gilt vor allem für interaktive Videospiele und Simulationen fremder Welten – da beeindruckt jedes heutige Multiplayer-Online-Game mehr.

 

Erläuterungen wie Bauanleitungen

 

Ebenso für enorm aufwändige Nachbildungen von Naturphänomenen in geschlossenen Räumen, etwa dichten Nebel von Kurt Hentschläger oder die Regenmaschine von Shiro Takatani und Christian Partos. Kunstnebel mit Stroboskoplicht und Donnerbeats bietet jede Techno-Disco, anmutige Wasserspiele jeder Springbrunnen vor Las-Vegas-Casinos. Das mindert nicht ihren Schauwert, wohl aber ihren kreativen Gehalt. Zumal die Künstler keine Inhalte formulieren, die über die reine Faktizität hinausgehen: Wir machen Nebel und Regen, weil wir es können.

 

Im Gegenteil: Die Erläuterungen zu den meisten Exponaten lesen sich wie langatmige Bauanleitungen für Elektrotechniker oder Gebrauchsanweisungen für Software-Ingenieure. Dieser Tekkie-Talk soll darüber hinwegtäuschen, dass es ihnen an einer Verbindung zur realen Welt jenseits von Bastelkellern und Tüftler-Laboren fehlt. Golnaz Behrouznia und Dominique Peysson füllen einen ganzen Saal mit bunt schillernden Pseudo-Quallen und Polypen. Mal abgesehen davon, was daran digital sein soll – was will diese infantil-demiurgische Life-Sciences-Fantasie mitteilen? Ein paar Säle weiter steuert der höchst erfolgreiche Deko-Artist Refik Anadol seine digitalen Farbschäume bei, die auf einem Monitor geruhsam durcheinander schwappen – als sinnfreie Fototapete im Lavalampen-Look.

 

Relevantes aus Japan

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Link in Bio. Kunst nach den sozialen Medien" im Museum der bildenden Künste, Leipzig

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Ryoji Ikeda: data-verse 1 + 2" - beeindruckende Digitalkunst-Projektion im Kunstmuseum Wolfsburg

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Micro Era – Medienkunst aus China" - Überblicksschau mit Beiträgen von Lu Yang im Kulturforum, Berlin

 

und hier einen Beitrag über das Digitalkunst-Festival "Transmediale 2015 – Capture All" im Haus der Kulturen der Welt, Berlin.

 

Gewiss: Einige Exponate betören durch ihre schlichte Schönheit. Etwa gleich zum Auftakt die filigranen Flechtkonstruktionen der Kroatin Ivana Franke: Sie veranschaulichen mit geometrischen Grundformen optische Phänomene – und hätten schon jede ZERO-Kunstschau der 1960er Jahre bereichert. Anderen Teilnehmern gelingt überzeugend der Brückenschlag zwischen Digital-Datenflut und relevanten Aspekten zeitgenössischen Lebens. Es dürfte kein Zufall sein, dass die meisten aus Japan kommen – demjenigen ostasiatischen Land, in dem sowohl ausgefeilte Ästhetik als auch Beschäftigung mit Hochtechnologie eine lange Tradition haben.

 

Wie auch das Anfertigen kostbarer Stoffe: Shoya Dozono füttert computergesteuerte Webstühle mit großen Datenpaketen – auf diese Weise entstehen Gewebe mit so fremdartigen wie ansprechenden Mustern. Ryoichi Kurokawa verquirlt Detail-Ansichten organischen Lebens vom Bakterium bis zum Fischmaul mit brachialen Störgeräuschen – dieses Sperrfeuer versinnbildlicht das Prekäre am Dasein schon auf Ebene der Einzeller. Umgekehrt setzt Rioji Ikeda gewaltige Datenmengen in Breitwand-Tableaus um, um mit „data-verse 1+2„ die Größenverhältnisse im Universum zu visualisieren.

 

In den Kinderschuhen

 

Das ist eine bezwingend eindrucksvolle Anwendung avancierter Digitaltechnik – und hier fast so selten wie ein belebter Planet in der Galaxie. Mag Silicon Valley sich ständig selbst überholen, und die Klage über die Antiquiertheit des Menschen weitaus älter sein als die ersten Personalcomputer: Anders als die dafür benutzte Technik steckt Digitalkunst offenbar noch in den Kinderschuhen.