Berlin

Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit

Hugo van der Goes: Detail: Sündenfall des Wiener Diptychons, um 1477/79, Wien, Kunsthistorisches Museum. Foto: © KHM-Museumsverband
Das halb vergessene Genie: Hugo van der Goes ist heutzutage wenig bekannt, doch die altniederländische Malerei hat er ähnlich weit vorangebracht wie Jan van Eyck und Rogier van der Weyden. Sein schmales, aber faszinierend vielseitiges Werk zeigt die Gemäldegalerie in einer fulminanten Retrospektive.

Ein tragisches Ende, Kampf mit inneren Dämonen und ein herausragendes künstlerisches Werk: Das Leben und Werk des altniederländischen Malers Hugo van der Goes (1435/40-1482) bietet eigentlich alle Voraussetzungen, um ihm legendären Nachruhm zu sichern. Tatsächlich löste sein Schicksal im 19. Jahrhundert Faszination aus, als Aufzeichnungen eines Zeitzeugen mit spektakulären Details bekannt wurden.

 

Info

 

Hugo van der Goes –
Zwischen Schmerz und Seligkeit

 

31.03.2023 - 16.07.2023

 

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr

donnerstags bis 20 Uhr

in der Gemäldegalerie am Kulturforum, Matthäikirchplatz, Berlin

 

Katalog 39 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Später, als die Begeisterung der Kunstwelt für religiöse Malerei abnahm, wurde es still um diesen Künstler. Dabei zählte Albrecht Dürer ihn bei seiner Reise in die Niederlande noch zu den größten drei Kollegen, neben Jan van Eyck und Rogier van der Weyden. Heute ist der Mann, der 1467 der Malerzunft in Gent beitrat, ziemlich vergessen. Hugo – wer? Schon sein Name dürfte wenigen geläufig sein. Wie spricht man ihn überhaupt aus?

 

Schätzkästchen mit Altartafel-Juwelen

 

Noch nie gab es eine Einzelausstellung seines Werks, doch die Berliner Gemäldegalerie holt das jetzt fulminant nach. Sie inszeniert die Schau wie ein Schätzkästchen mit abgedunkelten Räumen, in denen die farbintensiven Altartafeln wie Juwelen leuchten. Diese kommen aus New York, Wien, London, Baltimore und Venedig; ein Exponat hat zuvor noch nie die Kathedrale von Brügge verlassen.

Impressionen der Ausstellung


 

Große Gefühle für breites Publikum

 

Für diese Retrospektive ist die Gemäldegalerie ein idealer Ausrichter. Nirgends auf der Welt befinden sich mehr Topstücke von Hugo van der Goes: drei Gemälde, davon zwei von kapitaler Größe. Das mag nach wenig klingen, doch nur 14 Arbeiten können dem Künstler zweifelsfrei zugeschrieben werden, plus zwei eigenhändige Zeichnungen. Fast alle sind nun erstmals an einem Ort versammelt.

 

Dieser Überblick über das Œuvre des detailbesessenen und innovativen Hugo van der Goes bietet nicht nur Altmeister-Liebhabern reichlich Augenfutter, sondern auch große Effekte und Gefühle für ein breites Publikum. Insgesamt sind rund 60 Werke zu sehen, darunter Kopien verlorener Werke von Zeitgenossen oder Nachfolgern. Sie zeigen, welch enorme Wirkung die Ideen Hugos entfalteten.

 

Altar für eine Million Goldmark

 

Der Rundgang beginnt mit einem Paukenschlag. Der ausladende, frühe Monforte-Altar ist Hugo van Goes’ absolutes Meisterstück und zugleich das großformatigste Tafelbild der altniederländischen Malerei überhaupt. 1910 wurde es für eine Million Goldmark von einem spanischen Jesuitenkloster erworben.

 

Lebensgroß treten die Heiligen Drei Könige wie Schauspieler auf die Bildbühne. Wie zum Greifen nah rückt der Maler sie heran: jeder ist ein Individuum, ein lebendiger Mensch mit Emotionen und einem Körper, der wuchtig Raum für sich beansprucht. All das war neu und muss auf damalige Betrachter atemberaubend gewirkt haben. Dazu diese Präzision!

 

Bildregie zoomt Geschehen heran

 

Im Vordergrund lässt der Maler die Kräuter so naturgetreu sprießen, als sei er in Botanik beschlagen. Natürlich waren Akelei und die anderen Pflänzchen zugleich Mariensymbole. In einen am Boden abgestellten, goldenen Geschenkpokal des ältesten Königs kann man von oben hineinblicken und buchstäblich die Münzen darin zählen. Die Gesichter der stehenden Gestalten gibt Hugo van Goes dagegen in Untersicht wieder. Mit solchen Perspektiv-Tricks intensiviert er die monumentale Wirkung: Seine Bildregie zoomt das Geschehen regelrecht heran.

 

Das war weder Selbstzweck noch Angeberei eines virtuosen Könners. Die seinerzeit gängige Frömmigkeitspraxis der devotio moderna setzte auf emotionale Einfühlung. Wie die Bildfiguren leiden, grübeln, sehnen und trauern, das lassen sie auch die Betrachtenden spüren. Körpersprache und Mimik sind voller Feingefühl und Variationsbreite. Damit erreicht dieser Maler sein Publikum noch heute – auch wenn ihm die biblischen Inhalte und religiösen Gewissensfragen weniger drängend erscheinen als den damaligen Gläubigen.

 

Hohe Eintrittsgebühr für Malerzunft

 

Für Überraschung sorgt die jüngste Veränderung des Meisterwerks. Ihm fehlte bislang oben ein 77 Zentimeter großes Stück; es war im 17. Jahrhundert abgesägt worden. Nun wurde eine ungefähre Rekonstruktion gewagt, anhand überlieferter Zeichnungen und Kopien. Der Restaurator der Gemäldegalerie stückelte mit dem Pinsel zwei schwebende Engel nebst Architekturkulisse an. Siehe da – das breitformatige Bild gewinnt plötzlich immens an Luftigkeit.

 

Als Hugo van der Goes Anfang der 1470er Jahre diesen Altar schuf, hatte längst seine Erfolgslaufbahn begonnen. In der regionalen Elite gut vernetzt, mietete er ein großes Haus in Gent und ließ sich zum Dekan der Malerzunft wählen. Kraft seines Amtes war er für Qualitätskontrolle und das Schlichten von Konflikten zuständig. Sonst verraten die spärlichen Quellen wenig. Seine Ausbildung könnte er bei Rogier van der Weyden in Brüssel erhalten haben, oder beim wenig bekannten Joos van Wassenhove – dieser Maler bürgte für ihn beim Zunfteintritt. Der war mit erheblichen Ausgaben verbunden: Hugo musste 6 Pfund und 4 Schilling bezahlen, eine Silberschale stiften und auf eigene Kosten ein Bankett ausrichten.

 

100 Varianten der Kreuzabnahme

 

Seine Malweise zeigt ihn als Verfechter neuer Ideen, der sich mit Bedacht aus dem Fahrwasser des Altbekannten hinausbewegte. So erfand er das erzählende Halbfiguren-Bild, das sie in Nahansicht heranrückt: Bei einer „Großen Kreuzabnahme“, die nur als Fragment erhalten ist, füllten die handelnden Akteure um den toten Christus den Bildraum komplett aus.

 

Die Darstellung ihrer Gefühle wird zum zentralen Sujet des Bildes. Das machte Schule: Allein von dieser Komposition sind 100 Varianten anderer Künstler bekannt. Den Boom dieses Motivs soll eine Bildstrecke von Mini-Abbildungen veranschaulichen, die wie eine Tapete die Wand entlangläuft – ein zaghafter Versuch der Kuratoren, die ansonsten konservativ gehaltene Ausstellung abwechslungsreicher zu gestalten.

 

Größenwahnsinniger Altar aus Uffizien

 

Mit Porträtstudien muss Hugo van der Goes seine charakterstarken Bibelgestalten vorbereitet haben, doch davon ist leider wenig erhalten. Vier kleine Bildnisse, teils aus seinem Umkreis, werden ausgestellt: stets penibel, mit überscharfem Blick für Haare, Stirnfalten oder Bartschatten. Solches Können war gefragt, wenn sich die Stifter eines Altars auf diesem verewigen lassen wollten.

 

Auf dem Portinari-Altar in den Florentiner Uffizien bildete Hugo den Medici-Bankier mitsamt seiner Familie ab. Dieses Riesenwerk lässt sich nicht transportieren, ist in der Schau aber immerhin durch eine hochauflösende 1:1-Reproduktion vertreten. Für damalige Verhältnisse waren die Ausmaße dieses Gemäldes fast größenwahnsinnig. Neigte der Künstler zu übersteigertem Selbstbewusstsein?

 

Paradies-Schlange als surreale Kreatur

 

Winzig klein fällt dagegen die Paradies-Szene auf einem kostbaren Diptychon aus Wien aus. Auch hier brilliert der wandlungsfähige Hugo van der Goes, der auch die Buchmalerei stark beeinflusste. Mit haarfeinem Pinsel ließ er rote Erdbeeren und Obstbäume im Garten Eden wachsen. Mitten im paradiesischen Grün steht unterm Baum der Erkenntnis die nackte Eva, eine selbstbewusste Frau. Der Apfel in ihrer Hand ist schon angebissen, ihrem Mann Adam pflückt sie rasch einen zweiten. Was verblüfft, ist die Schlange, die neben ihr am Baumstamm lehnt: Das vierfüßige, grüne Reptil mit Menschengesicht gleicht einer surrealen Kreatur.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Spätgotik – Aufbruch in die Neuzeit" - umfassende Epochenschau in der Gemäldegalerie, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Dürer. Kunst - Künstler - Kontext" - große Retrospektive des Renaissance-Genies im Städel Museum, Frankfurt am Main

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Fantastische Welten - Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500" in Frankfurt/ Main + Wien.

 

Als diese Paradies-Szene entstand, lebte der Maler wohl schon im Kloster. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere trat Hugo van der Goes ins „Roode Klooster“ bei Brüssel ein; vielleicht wollte er seinem dort lebenden Bruder nahe sein. Auch hier hatte er allerhand zu tun: Der Laienbruder betrieb seine Werkstatt sicher mit zahlreichen Gehilfen. Er genoss Privilegien und durfte hochgestellte Kundschaft hinter Klostermauern empfangen. Sogar der spätere Habsburgerkaiser Maximilian I. schaute vorbei.

 

Musik-Therapie heilt Seelenqual nicht

 

Hugo van der Goes trank und speiste üppig mit solchen Herrschaften. Andrerseits geriet er in Stress – er fürchtete, die Menge bestellter Aufträge nicht bewältigen zu können. Sein Erfolg dürfte ihn in Konflikt mit den Idealen der Demut und Askese gebracht haben; Hochmut galt als Todsünde. Über die Gründe seiner psychischen Labilität ist viel spekuliert worden. Verbürgt ist, was ein Mitbruder festhielt: Auf einer Reise nach Köln erlitt Hugo einen Anfall von Wahnsinn – er fühlte sich verwirrt und verdammt.

 

Der Klosterprior verordnete als heilsame Therapie, der gequälten Seele Musik vorzuspielen, wie einst dem schwermütigen biblischen König Saul. Doch vergeblich. Sehr demütig sei er gestorben: „1482 morit frater Hugo“, notiert eine Chronik. Die Wiederentdeckung des Künstlers begann, als ein Archivar sie im 19. Jahrhundert ausfindig machte. Ein Neffe von ihm, Émile Wauters, verarbeitete 1872 den „Wahnsinn des Hugo van der Goes“ in einem melodramatischen Historiengemälde, das sehr populär wurde.

 

Van Gogh als Halb-van der Goes

 

Von diesem Bild wurde ein aufstrebender niederländischer Maler tief berührt: Vincent van Gogh. Er schrieb an seinen Bruder: „… ich selbst bin in letzter Zeit beinahe ebenso verstört geworden wie Hugo van der Goes in dem Gemälde (…). Da ich mir allerdings den Bart sorgfältig abrasiert habe, glaube ich, dass ich ebenso viel von dem ganz ruhigen Abt in demselben Gemälde habe (…). Und ich bin nicht unzufrieden, mich ein wenig zwischen den beiden zu befinden, denn man muss leben.“