Abends in Berlin. Regentropfen auf dem Fenster eines Busses brechen die Lichter der dahinter liegenden Stadt. Ein älterer Passagier beobachtet vorbeiziehende Szenen: eine Obdachlose, die um Geld bettelt; ein Hund, der über die Straße läuft; ein Paar, das sich an der Ampel streitet. Ein paar Minuten später wartet der Mann an einer Bushaltestelle, als ihm eine fremde Frau überraschend auf den Nacken küsst. Er schreckt zurück, die Frau entschuldigt sich: Sie habe ihn mit ihrem Ehemann verwechselt. Der Mann wirkt erleichtert, aber auch skeptisch.
Info
Die Unschärferelation der Liebe
Regie: Lars Kraume,
92 Min., Deutschland 2023;
mit: Burghart Klaußner, Caroline Peters, Carmen-Maja Antoni
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Alexander war nie irgendwo
Ihr Gatte sei vor einem Jahr gestorben, erzählt sie, und sie könne sich nicht erklären, wie sie ihn habe verwechseln können. Zudem sei sie in letzter Zeit sehr abgelenkt, würde bereits ihr Leben lang als Kellnerin arbeiten, und ob er denn schon mal in Afrika gewesen sei? Alexander ist das Gerede sichtlich unangenehm. Er bleibt zunächst gelassen, kontert aber bald so kurz angebunden wie schlagfertig – und beantwortet Gretas letzte Frage knapp mit: „Ich war noch nie irgendwo.“
Offizieller Filmtrailer
Überraschender Besuch
Irgendwann reißt er sich los von ihr und läuft durch die Nacht nach Hause, wo er am kargen Küchentisch ein belegtes Brötchen isst. Es wirkt wie ein Theaterstück, das den Betrachter in seinen Bann zieht. Doch das ist erst der Anfang: Ein paar Tage später taucht Greta zu seiner Überraschung in Alexanders Metzgerei auf, deren Standort sie „kinderleicht“ gefunden habe, wie sie sagt – nämlich mit Google Maps.
Abermals verfällt sie in einen Redeschwall und gesteht, beim ersten Treffen über sich selbst in allen Details gelogen zu haben. Tatsächlich habe ihr Mann sie vor einigen Jahren verlassen, und sie sei auch keine Kellnerin, sondern arbeite als Sekretärin in einer Schule. Doch je verrückter die dauerquasselnde Greta wirkt, desto zugewandter wird Alexander. So kommt es, wie der Film von Anfang an subtil suggeriert, zur Annäherung: Beide landen miteinander im Bett.
Selbe Besetzung wie in Theaterfassung
Was ist hier eigentlich los? Geht das mit rechten Dingen zu? Warum schmeißt sich diese Frau mit Ende 40 an einen wesentlich älteren, unscheinbaren Mann heran? Als Greta den Metzgermeister noch in dieser ersten gemeinsamen Nacht um 15.000 Euro bittet, um ihren angeblich in New Jersey verschwundenen Sohn zu besuchen, wird klar, dass es sich um eine Art Liebesschwindel handelt. Alexander lässt sich das nicht bieten und wirft Greta hinaus. Doch dann kommt wieder alles anders – nur Greta bleibt ihrer Manier treu und plappert weiter.
Es wirkt wie ein Theaterstück, und das ist kein Zufall. Das von Regisseur Lars Kraume gemeinsam mit Dorothee Schön verfasste Drehbuch basiert auf dem 2015 uraufgeführten Bühnendrama „Heisenberg“ von Simon Stephens, das 2016 im Düsseldorfer Schauspielhaus zu sehen war. In dieser Inszenierung verkörperten gleichfalls Klaußner und Peters die Hauptrollen. Dem Schauspieler-Duo gelingt es beeindruckend, ihre Figuren von der Bühne auf die Leinwand zu transportieren.
Regie setzt zu sehr auf Bühnen-Dramatik
Auch sonst funktioniert die Kino-Adaption gut: So zeigt die Kamera beide stets im mittleren Close-up und blendet damit die jeweilige Umgebung fast vollständig aus. Derweil halten hastige, überdrehte Dialoge die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf Trab wie bei einem Theaterpublikum, das vor einer räumlich begrenzten Bühne bei der Stange gehalten werden muss. Manchmal sind diese Dialoge ziemlich witzig: Als Greta Alexander fragt, was ihm daran gefalle, Metzger zu sein, antwortet er: „Ich mag Tiere, ich mag Fleisch und ich mag Messer.“
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der vermessene Mensch" – fesselndes Dokudrama über den Völkermord an den Herero 1904 von Lars Kraume
und hier eine Besprechung des Films "Der Staat gegen Fritz Bauer" – gelungenes Biopic über den Staatsanwalt, der Adolf Eichmann aufspürte, von Lars Kraume mit Burkhart Klaußner
und hier einen Beitrag über den Film "Der Nachname" – Nachfolger der Erfolgskomödie "Der Vorname" von Sönke Wortmann mit Caroline Peters.
Unbestimmbare Eigenschaften
Es ist, als habe der Regisseur die quantenphysikalische Unschärferelation im Titel des Films auf dessen Handlung übertragen: Der spätere Nobelpreisträger Werner Heisenberg hatte 1927 bewiesen, dass zwei Eigenschaften eines Teilchens sich nicht gleichzeitig bestimmen lassen, weil die Messung eines Parameters unweigerlich den anderen beeinflusst. Ebenso verändert sich auch die Wahrnehmung der beiden Protagonisten während des Films in ungeahnte Richtungen – je nachdem, was man über sie erfährt. Dieses Verhaltens-Experiment dürfte vor allem für jene spannend sein, die gerne stets ein wenig im Unklaren gelassen werden.