Manche Filme funktionieren nur im Kino: Um „Die Purpursegel“ zu genießen, braucht es Konzentration und die Abgeschlossenheit des dunklen Raumes mit der großen Leinwand. Denn es ist ein Film, der in langen, ruhigen Einstellungen die Schönheit seiner Bilder und die Faszination des Sehens geradezu zelebriert. Die eigentliche Geschichte tritt dabei in den Hintergrund.
Info
Die Purpursegel
Regie: Pietro Marcello,
100 Min., Deutschland/ Frankreich/ Italien 2022;
mit: Raphaël Thiéry, Juliette Jouan, Louis Garrel
Weitere Informationen zum Film
Rückkehr aus dem Krieg
Das gilt für die Küstenlandschaft der Normandie, in der der Film spielt, genau so wie für den Menschen. Als der Arbeiter Raphaël (von beeindruckender Präsenz: Raphaël Thierry) aus dem Ersten Weltkrieg in sein Dorf heimkehrt, ist seine Frau Marie verstorben – wie sich später herausstellen wird, infolge einer Vergewaltigung, die von der Dorfgemeinschaft totgeschwiegen wird. Eine Pflegemutter hat sich unterdessen Raphaëls kleiner Tochter angenommen.
Offizieller Filmtrailer
Kindheit in ländlicher Abgeschiedenheit
Der hinkende, schwerfällige Mann nimmt diesen Schicksalsschlag wortkarg hin. Die Grobheit seiner äußeren Erscheinung steht in krassem Gegensatz zur Zartheit seines Herzens und zum Geschick seiner Hände, mit denen er Holzspielzeug herstellt oder auch ein Klavier repariert.
Seine Tochter Juliette hingegen ist ein wunderbar zartes Gewächs. Sie lebt zwar zusammen mit ihrem Vater und der so zupackenden wie liebevollen Pflegemutter Adeline (Noémie Lvovsky) in ländlicher Abgeschiedenheit. Aber im Haus herrscht auch eine große Liebe zu Musik und zu Geschichten, in denen das Wunderbare noch einen ganz selbstverständlichen Platz hat.
Uneingestandene Kollektivschuld
Mit den Jahren wächst sie zu einer schönen jungen Frau (Debütantin Juliette Jouan) heran. Sie hat eine schöne, klare Singstimme, die im Film oft in Chansons erklingt. Von diesen Liedern geht ein ähnlich verträumt-nostalgischer Charme aus wie von den Bildern.
Juliette und ihre Wahlfamilie von Außenseitern leben auf einem wild-romantischen, halbverfallenen Gehöft am Dorfrand. Vom Rest des Dorfes werden sie scheel beäugt. Dieses Misstrauen ist durchzogen von einer nicht eingestandenen Schuld gegenüber Juliettes Mutter. Und wer wie Juliette noch an Wunder glaubt, ist in ihren Augen ohnehin nicht ernst zu nehmen.
Keine weltfremde Prinzessin
Doch in dieser Neuverfilmung der gleichnamigen Novelle des russischen Schriftstellers Alexander Grin (1880 – 1932) ergeben Gegensätze zusammen ein Ganzes: die zarte Tochter und der grobe Vater, das dörfliche Leben und die Kunst, Handwerk und Erhabenes, Himmel und Erde.
Der italienische Regisseur Pietro Marcello, der mittlerweile in Frankreich lebt, passt den Stoff behutsam an heutige Verhältnisse an. So ist seine Juliette keine weltfremde Prinzessin, die passiv auf den sie rettenden Prinzen wartet. Eines Tages würde der sie mit einem Schiff mit purpurroten Segeln entführen, so prophezeit es ihr eine alte, wunderliche Frau (Yolande Moreau).
Naturromantik trifft Dokfilm
Getreu der Vorlage setzt der Film auf eine Art magischen Realismus, der spürbar wird, wenn man nur genau hinschaut. Das kann ein nebeliger Morgen sein oder ein lauer Sommerabend oder ein Lied. Bei diesem vehementen Bekenntnis zu Romantik und Nostalgie meistert Marcello bravourös die Gratwanderung zwischen Glaubwürdigkeit und Kitsch.
Hintergrund
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Sehnsucht nach einer anderen Welt
Kein Wunder, schließlich hat Pietro Marcello seine Laufbahn als Dokumentarfilmer begonnen. Während sein mittlerweile dritter Spielfilm auf der formalen Ebene beeindruckt, überzeugt er jedoch inhaltlich nicht ganz. Die Geschichte mäandert lange vor sich hin, ohne dass klar würde, welche Figur im Fokus steht. Und der Ausschluss Juliettes aus der Dorfgemeinschaft wirkt recht behauptet; ebenso wie ein plumper Verehrer, der am Ende noch für etwas Dramatik sorgt, als man sie schon gar nicht mehr erwartet.
Am besten ist der Film dann, wenn er von der Sehnsucht nach einer Welt erzählt, die größer ist als wir selbst, weil sie über den profanen Alltag hinausreicht. Eine Welt, in der es eben auch Magie und Prophezeiungen und Prinzen gibt – selbst wenn sie am Ende mühsam auf verbrannten Beinen laufen, anstatt auf einem stolzen Schiff davon zu segeln.