Pietro Marcello

Die Purpursegel

Juliette (Juliette Jouan) und Jean (Louis Garrel) geniessen ihre Zweisamkeit. Foto: Piffl Medien
(Kinostart: 6.7.) Nostalgie in magischen Bildern: Der italienische Regisseur Pietro Marcello verfilmt auf Französisch das Werk eines russischen Novellisten. Dabei entsteht eine zutiefst romantische Hommage an die Schönheit der einfachen Dinge und des Träumens.

Manche Filme funktionieren nur im Kino: Um „Die Purpursegel“ zu genießen, braucht es Konzentration und die Abgeschlossenheit des dunklen Raumes mit der großen Leinwand. Denn es ist ein Film, der in langen, ruhigen Einstellungen die Schönheit seiner Bilder und die Faszination des Sehens geradezu zelebriert. Die eigentliche Geschichte tritt dabei in den Hintergrund.

 

Info

 

Die Purpursegel

 

Regie: Pietro Marcello,

100 Min., Deutschland/ Frankreich/ Italien 2022;

mit: Raphaël Thiéry, Juliette Jouan, Louis Garrel

 

Weitere Informationen zum Film

 

Gefilmt wurde im mittlerweile ungewohnten 4:3-Format und auf verschiedenem analogem Material – unter anderem 35 Millimeter und Super 16. Dadurch wirken die Bilder grobkörnig wie aus einer anderen Zeit. Sie haben so gar nichts von der heute üblichen glatten Brillanz und maximal optimierten Tiefenschärfe; gerade deshalb faszinieren sie umso mehr. Wahre Schönheit verbirgt sich oft hinter einer rauen Oberfläche.

 

Rückkehr aus dem Krieg

 

Das gilt für die Küstenlandschaft der Normandie, in der der Film spielt, genau so wie für den Menschen. Als der Arbeiter Raphaël (von beeindruckender Präsenz: Raphaël Thierry) aus dem Ersten Weltkrieg in sein Dorf heimkehrt, ist seine Frau Marie verstorben – wie sich später herausstellen wird, infolge einer Vergewaltigung, die von der Dorfgemeinschaft totgeschwiegen wird. Eine Pflegemutter hat sich unterdessen Raphaëls kleiner Tochter angenommen.

Offizieller Filmtrailer


 

Kindheit in ländlicher Abgeschiedenheit

 

Der hinkende, schwerfällige Mann nimmt diesen Schicksalsschlag wortkarg hin. Die Grobheit seiner äußeren Erscheinung steht in krassem Gegensatz zur Zartheit seines Herzens und zum Geschick seiner Hände, mit denen er Holzspielzeug herstellt oder auch ein Klavier repariert.

 

Seine Tochter Juliette hingegen ist ein wunderbar zartes Gewächs. Sie lebt zwar zusammen mit ihrem Vater und der so zupackenden wie liebevollen Pflegemutter Adeline (Noémie Lvovsky) in ländlicher Abgeschiedenheit. Aber im Haus herrscht auch eine große Liebe zu Musik und zu Geschichten, in denen das Wunderbare noch einen ganz selbstverständlichen Platz hat.

 

Uneingestandene Kollektivschuld

 

Mit den Jahren wächst sie zu einer schönen jungen Frau (Debütantin Juliette Jouan) heran. Sie hat eine schöne, klare Singstimme, die im Film oft in Chansons erklingt. Von diesen Liedern geht ein ähnlich verträumt-nostalgischer Charme aus wie von den Bildern.

 

Juliette und ihre Wahlfamilie von Außenseitern leben auf einem wild-romantischen, halbverfallenen Gehöft am Dorfrand. Vom Rest des Dorfes werden sie scheel beäugt. Dieses Misstrauen ist durchzogen von einer nicht eingestandenen Schuld gegenüber Juliettes Mutter. Und wer wie Juliette noch an Wunder glaubt, ist in ihren Augen ohnehin nicht ernst zu nehmen. 

 

Keine weltfremde Prinzessin

 

Doch in dieser Neuverfilmung der gleichnamigen Novelle des russischen Schriftstellers Alexander Grin (1880 – 1932) ergeben Gegensätze zusammen ein Ganzes: die zarte Tochter und der grobe Vater, das dörfliche Leben und die Kunst, Handwerk und Erhabenes, Himmel und Erde.

 

Der italienische Regisseur Pietro Marcello, der mittlerweile in Frankreich lebt, passt den Stoff behutsam an heutige Verhältnisse an. So ist seine Juliette keine weltfremde Prinzessin, die passiv auf den sie rettenden Prinzen wartet. Eines Tages würde der sie mit einem Schiff mit purpurroten Segeln entführen, so prophezeit es ihr eine alte, wunderliche Frau (Yolande Moreau).

 

Naturromantik trifft Dokfilm

 

Getreu der Vorlage setzt der Film auf eine Art magischen Realismus, der spürbar wird, wenn man nur genau hinschaut. Das kann ein nebeliger Morgen sein oder ein lauer Sommerabend oder ein Lied. Bei diesem vehementen Bekenntnis zu Romantik und Nostalgie meistert Marcello bravourös die Gratwanderung zwischen Glaubwürdigkeit und Kitsch.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Martin Eden" – faszinierend originelles Aufsteiger-Porträt nach dem Roman von Jack London von Pietro Marcello

 

und hier eine Besprechung des Films "Annette" – hinreißendes Amour-Fou-Musical von Leos Carrax

 

und hier einen Beitrag über den Film "Glücklich wie Lazzaro" – fantastisches modernes Märchen aus Italien über ländliche Ausbeutung von Alice Rohrwacher

 

und hier einen Bericht über den Film  "Jane Eyre" – gelungene Roman-Adaption von Cary Fukunaga nach dem Klassiker von Charlotte Brontë.

 

Wie auch schon im fulminanten Vorgänger „Martin Eden“ (2019) schafft er es, die Essenz der literarischen Vorlage mit neuen Zeit- und Ortsbezügen zu adaptieren. Erneut nutzt der Regisseur dafür auch dokumentarisches Material: Diesmal sind es bewegte Bilder aus der Zwischenkriegszeit, die er sparsam zwischen die Spielfilmszenen schneidet. Statt die Vergangenheit für den Film nachzubauen, bedient er sich lieber bei den Originalquellen.

 

Sehnsucht nach einer anderen Welt

 

Kein Wunder, schließlich hat Pietro Marcello seine Laufbahn als Dokumentarfilmer begonnen. Während sein mittlerweile dritter Spielfilm auf der formalen Ebene beeindruckt, überzeugt er jedoch inhaltlich nicht ganz. Die Geschichte mäandert lange vor sich hin, ohne dass klar würde, welche Figur im Fokus steht. Und der Ausschluss Juliettes aus der Dorfgemeinschaft wirkt recht behauptet; ebenso wie ein plumper Verehrer, der am Ende noch für etwas Dramatik sorgt, als man sie schon gar nicht mehr erwartet.

 

Am besten ist der Film dann, wenn er von der Sehnsucht nach einer Welt erzählt, die größer ist als wir selbst, weil sie über den profanen Alltag hinausreicht. Eine Welt, in der es eben auch Magie und Prophezeiungen und Prinzen gibt – selbst wenn sie am Ende mühsam auf verbrannten Beinen laufen, anstatt auf einem stolzen Schiff davon zu segeln.