Afrikaner beklagen häufig, dass ihr riesiger Kontinent mit seinen Hunderten von Völkern und Kulturen im internationalen Kino meist nur auf zweierlei Art vorkomme. Entweder als malerische Kulisse für die Tatkraft überlegener weißer Akteure; das nennt der Filmtheoretiker Manthia Diawara aus Mali spöttisch „Kalebassen-Kino“. Oder als Jammertal voller unermesslicher Tragik und Leid, als wahres Herz der Finsternis – dabei habe Afrika auch jede Menge Positives zu bieten.
Info
Running against the Wind
Regie: Jan Philipp Weyl,
116 Min., Äthiopien/ Deutschland 2019;
mit: Ashenafi Nigusu, Mikiyas Wolde, Samrawit Desalegne
Weitere Informationen zum Film
Erratische Zeitsprünge + Ortswechsel
Weder Weyl noch sein Ko-Autor Michael Wogh können offenbar ein Drehbuch schreiben. Sie reihen Szenen völlig unmotiviert und unverbunden aneinander – was durch hektische Schnittfolgen weder kompensiert noch erträglicher wird. Mal wird ein einjähriger Zeitsprung durch Einblendung umständlich angezeigt, dann ein zehnjähriger Zeitsprung ohne jede Erläuterung durchgezogen. Ebenso erratisch geschehen Ortswechsel; vielleicht hält das Duo dies für produktive Verstörung.
Offizieller Filmtrailer OmU
Dorfkind siegt bei Top-Rennen
Dabei ist die Story denkbar simpel; eine Art umgekehrte Königskinder-Fabel. Zwei Zwölfjährige im staubigen Nirgendwo treffen unversehens auf einen weißen Fotografen, der sie ablichtet und auf einen Kurztrip in die Hauptstadt Addis Abeba einlädt. Damit ist Solomon angefixt; bald klaut er den Fotoapparat und haut nach Addis ab, wo er erwartbar als Straßenkind endet. Sein Freund Abdi bleibt im Dorf, rennt ausdauernd herum – und wird wundersamerweise als Lauftalent entdeckt, das ein vierschrötiger Trainer ins Nationalmannschafts-Camp nach Addis mitnimmt.
Wenige Filmminuten später siegt Abdi (Ashenafi Nigusu) wundersamerweise bei einem prestigeträchtigen Straßenrennen, kassiert bündelweise Preisgeld und wird von Äthiopiens Marathon-Legende Haile Gebrselassie persönlich belobigt. Doch Abdi fühlt irgendwie, dass sein Kindheitskumpel Solomon (Mikiyas Wolde) in der Nähe ist, spürt ihn wundersamerweise im Nu auf – und gerät in blutige Kleinganoven-Streitereien, denn Solomon gehört einer Gang von Dieben an.
Geister sorgen ständig für Wunder
Doch Rettung naht: in Gestalt des erfolgreichen weißen Fotografen Paul Reeb (Weyl selbst). Er stellt großzügig Solomon seine Ausstellungsfläche in einer renommierten Galerie zur Verfügung, damit dieser dort seine Schnappschüsse präsentieren kann. Wundersamerweise führt das irgendwie zur Versöhnung mit Solomons Frau Genet (Samrawit Desalegne); sie war zuvor mit dem Kind aus ihrer Slum-Hütte geflohen. Nur Abdi verpasst sein letztes Rennen; stattdessen fahren alle gemeinsam im Kleinbus zu säuselnden Songwriter-Klängen aufs Land.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ephraim und das Lamm" – facettenreiches Coming-of-Age-Drama über Landflucht in Äthiopien von Yared Zeleke
und hier eine Besprechung des Films "Das Mädchen Hirut - Difret" – hervorragendes Brautraub-Drama aus Äthiopien von Zeresenay Berhane Mehari
und hier einen Beitrag über den Film "Stand up my Beauty" – Porträt einer Azmari-Sängerin in Addis Abeba von Heidi Specogna
und hier eine Rezension des Buchs "Neues afrikanisches Kino – Ästhetik und Politik" von Manthia Diawara – prägnantes Standardwerk zur Thematik von 2011.
Hauptsache optimistisch bleiben
Dieser Wunder-Begriff deckt aber nicht die zahlreichen Detail- und Anschlussfehler des Films; man könnte meinen, Regisseur Weyl habe sie absichtlich eingebaut, um die Zuschauer zu foppen. Neben Kenia ist Äthiopien eine der beiden Lauf-Großmächte des Kontinents; das Hochland hat schon etliche Weltklasse-Athleten hervorgebracht. Dass Abdi wichtige Rennen im gemütlichen Jogging-Trab gewinnt, schmerzt daher beim Zusehen. Doch dass er und seine Camp-Kollegen nach langem Training unter stechender Sonne noch in frisch gebügelten T-Shirts ohne Schweißflecken herumlaufen, ist einfach Quatsch.
Indes kommt es Regisseur Weyl nicht auf Realismus an, sondern auf Leistungsethos: „Meine Hauptabsicht ist es zu zeigen, dass es das Wichtigste ist, Träume und Ziele zu haben und zu versuchen, diese zu erreichen – unabhängig von den Umständen und Herausforderungen!“ Und unabhängig von Handlungslogik, Plausibilität und Beredsamkeit, darf man hinzufügen. Die Dialoge der Protagonisten sind von erhabener Schlichtheit – wohl abgestimmt auf die Auffassungsgabe eines Publikums, dessen unverwüstlicher Optimismus sich auch von haarsträubendem Unfug nicht beirren lässt.