
Sie hießen „Rail Band de Bamakao“, „Le Mystère Jazz de Tombouctou“, „Super Biton de Ségou“ oder „Orchestre Kanaga de Mopti“ und waren oft mehr als zehn Mann stark. Als Mali im Jahr 1960 die Unabhängigkeit erlangte, lieferten sie den Sound für die junge Nation – eine Mischung aus Latin-Rhythmen, Jazz und Melodien aus der Region.
Info
Le Mali 70
Regie: Markus CM Schmidt,
92 Min., Mali/ Deutschland;
mit: Salif Keïta, Cheick Tidiane Seck, Abdoulaye Diabaté, Sory Bamba
Weitere Informationen zum Film
Zehn Jahre Afro-Musik nach Gehör spielen
Ihre verstaubten Original-Alben stecken in längst zerfledderten LP-Hüllen. Diese Platten sind Fetischobjekte für die Musiker des „Omniversal Earkestra“. Das offensichtlich vom Cosmic Jazz des „Sun Ra Arkestra“ und der nigerianischen Afrobeat-Legende Fela Kuti beeinflusste Berliner Bandprojekt spielt seit zehn Jahren afrikanische Populärmusik nach; die Arrangements erstellen die Musiker nach Gehör.
Offizieller Filmtrailer
Vorläufer der Instagramisierung
„Le Mali 70“ folgt ihnen auf eine Reise in den Sahel-Staat, wo sie der Musik ihrer Idole an Ort und Stelle nachspüren wollen. Ein vielfach erprobtes Konzept, etwa durch den Gitarristen Ry Cooder: Er ‚entdeckte‘ 1996 in Havanna den „Buena Vista Social Club“. Das bescherte den alten Damen und Herren mit dem gleichnamigen Album und der Doku von Wim Wenders (1999) einen zweiten Karrierefrühling.
Es war der Auftakt zu einer ganzen Reihe ähnlicher Dokumentarfilme; aus solchen Ausflügen zogen die westlichen und meist weißen Musiker häufig den größten Nutzen. Sie setzten sich an pittoresken Drehorten zwischen unbezahlten Statisten in Szene und nahmen damit die Instagramisierung der Gesellschaft vorweg. Mittlerweile tourt anscheinend fast jeder, der Afrika per Moped oder Fahrrad durchquert, danach noch ein Jahr mit Doku-Bildern durch deutsche Programmkinos.
Produktion von Album + Doku
Das wollen die Earkestra-Musiker offenbar vermeiden; sie drängen sich in „Le Mali 70“ nicht in die Mitte des Geschehens. Ihre Haltung gegenüber ihren zumeist älteren afrikanischen Kollegen ist geprägt von einer schüchternen Bescheidenheit. Sie treten eher auf als Schüler, die lernen wollen und zuhören können – getreu dem Bandnamen.
Schon vor der Abreise ahnen die 14 Musiker bereits, dass zwischen ihrer Transkriptionsarbeit und der oralen Musizierpraxis in Mali eine gewisse Kluft herrscht. Ihr Plan sieht eine gemeinsame Albumproduktion mit lokalen Musik-Veteranen in der Hauptstadt Bamako vor, und zusätzlich eine filmische Dokumentation. Die meisten solcher Tourfilme finden ihr verdientes Ende auf den Youtube-Kanälen der jeweiligen Bands. Dass „Le Mali 70“ ins Kino kommt, ist dagegen zu begrüßen; der Film hat eine positive Vorbildfunktion.
Alte Filme der Auftritte aus 1960ern
Auf eingesprochenen Text wird verzichtet, Einblendungen helfen bei der Orientierung. Die ersten Szenen wirken noch etwas steif, doch dann kommt Fluss in die meist chronologisch montierten Einstellungen, welche die Dramatik eines klugen Independent-Films erreichen. Auch hier reden Menschen über allerlei – zumeist Musik – und offenbaren dabei Tieferes. Zunächst treffen die Berliner in Bamako auf den Musiker Jimmy Soubeiga von „Super Biton“ und erfahren von Schlagzeugerin Mouneissa Tandina bei einem Ausflug in die Provinz mehr über seine Wurzeln.
Im zweiten Abschnitt besuchen sie historische Orte in Bamako wie den längst still gelegten Bahnhof. Das nahe „Buffet de l’Hotel de la Gare“ war früher die Heimat der „Rail Band“, deren Mitglieder sie dort treffen. Die Herschaften haben noch die alten Instrumente aufbewahrt, die die staatliche Bahn ihnen damals spendiert hat. Heute sind sie unspielbar. Abspielbar dagegen sind die Zelluloid-Rollen aus dem staatlichen Filmarchiv mit Auftritten legendärer Bands in den 1960er Jahren.
Kubas Entwicklungshelfer importierten Rumba
Diese Archivaufnahmen werden öfter eingeblendet; sie helfen bei der zeitlichen Einordnung mancher Begebenheiten, von denen die Rede ist. An die politische Lage im Norden erinnern dagegen zwei von dort kommende Musiker: Wegen der Umtriebe diverser Rebellen- und Terroristengruppen raten sie von einer Reise in die Regionalmetropole Timbuktu ab.
Dann erklärt der Gitarrist Elhaj Mahalmadane, warum die Populärmusik des multiethnischen Binnenlandes stark kubanisch geprägt ist: Staatschef Fidel Castro schickte Ausbilder und Ärzte nach Mali, die außer Krankenhäusern und Basketballfeldern auch die Rumba in alle Winkel des damals nominell sozialistischen Staates trugen. Später verrät Mahalmadane dem Berliner Schlagzeuger, im Gespräch, dass der Song, den sie gerade geprobt haben, aus Timbuktu kommt: Dort singen ihn Frauen bis heute, wenn die Maurer mit ihrer Arbeit beginnen und Lehmziegel verbauen. Der Trommler, selbst ein Maurersohn, staunt nicht schlecht.
Erdung per Kabel im Wasserloch
Es werden aber auch praktische Probleme gelöst: Um das Brummen eines Gitarrenverstärkers verstummen zu lassen, verbindet der lokale Toningenieur das Gerät per Gitarrenkabel mit einem Erdloch und schüttet etwas Wasser darauf. Erdung erfolgreich, Brummen verschwunden. Entlang solcher menschelnden Momente mäandert der Film von ersten Impromptu-Gigs über einen Auftritt im französischen Kulturzentrum bis zum Höhepunkt: der mehrtägigen Aufnahmesitzung im gut ausgestatteten Moffou-Studio.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Mali Blues" - bildgewaltige Dokumentation der vielfältigen Musikszene im Sahel-Staat von Lutz Gregor
und hier eine Besprechung des Films "Woodstock in Timbuktu – Die Kunst des Widerstands" - Dokumentation über das jährliche Touareg-Frestival in Mali von Désirée von Trotha
und hier einen Bericht über den Film "Timbuktu" - präzises Dokudrama über islamistischen Terror in Mali von Abderrahmane Sissako
und hier einen Artikel über den Film "Space is the Place" - psychedelisches Meisterwerk des Afrofuturismus von John Coney mit Cosmic-Jazz-Legende Sun Ra
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Dogon – Weltkulturerbe aus Afrika" mit Meisterwerken traditioneller Kunst aus Mali in der Bundeskunsthalle, Bonn.
Salomonischer Salif Keïta
ER ist Gesangsstar Salif Keïta, der seine Weltkarriere ebenfalls bei der „Rail Band“ begann. Keita hört sich das Arrangement an und urteilt salomonisch: Wenn die Deutschen es so hörten, sei es halt eine Interpretation, wie beim Jazz. Seck schüttelt den Kopf. Doch die Berliner gehen in sich und proben in nächtlichen Überstunden den richtigen Groove. Am Ende geht noch mal alles gut, doch der Applaus nach der Aufnahme wirkt verhalten.
Mit der letzten musikalischen Nummer endet der Film auf einer nachdenklichen Note. Es gibt ein abschließendes Konzert im „Buffet de l’Hotel de la Gare“, dem früheren Club des Bahnhofs, mit den Mitgliedern der „Rail Band“. Alle singen gemeinsam den Refrain, dessen Übersetzung lautet: „Glaube nicht, dass du jemanden kennst, bevor ihr zusammen gearbeitet habt“.
Gute Ergänzung zu „Mali Blues“
„Le Mali 70“ schildert zwar den Besuch eines Berliner Ensembles in der Sahel-Zone, räumt aber zugleich den dortigen Musikern angemessenen Raum ein. Damit ergänzt diese Doku gut den Dokumentarfilm „Mali Blues“ (2016) von Lutz Gregor, der ganz ohne europäische Akteure auskommt und eher den Konflikt zwischen lokalem Musikschaffen und importiertem Islam beleuchtet. Die gegenseitige Annäherung und das Bemühen um eine respektvolle Haltung machen darüber hinaus „Le Mali 70“ zu einem der besseren, weil aufschlussreichen Reiseberichte über Afrika.