Abspaltung – lateinisch: secessio – geht immer. Die Geschichte der modernen Kunst lässt sich mühelos als eine der periodisch wiederkehrenden Zellteilungen beschreiben, bei denen stets junge Bilderstürmer die Klubs der Altvorderen als gestrig und verstaubt schmähen, um ihre eigenen avantgardistischen Zirkel zu gründen – bis die nach einer Weile ebenso als gestrig und verstaubt angegriffen werden. Diesen Staffellauf des Sich-gegenseitig-Überbietens und -Überholens haben die Secessionen, die in Mitteleuropa Ende des 19. Jahrhunderts en vogue waren, losgetreten – nicht allein, aber maßgeblich.
Info
Secessionen.
Klimt, Stuck, Liebermann
23.06.2023 - 22.10.2023
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr
in der Alten Nationalgalerie,
Bodestr. 1-3, Berlin
Katalog 45 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
23.05.2024 - 13.10.2024
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr
im Wien Museum, Karlsplatz 8, Wien
Weitere Informationen zur Ausstellung
Foren für lokale Platzhirsche
Wie sich diese Vereinigungen entwickelten, ist bestens dokumentiert. Doch meist werden sie isoliert betrachtet: als Foren für den lokal vorherrschenden Kunststil, der mit jeweils übermächtigen Künstlerpersönlichkeiten identifiziert wird. In München ist das der Symbolismus von Malerfürsten wie Franz von Stuck. In Wien gilt die Secession als Hort des Jugendstils, von Gustav Klimt prachtvoll zur Blüte gebracht. Max Liebermann konnte als Präsident der Berliner Secession den Impressionismus in Deutschland durchsetzen, heißt es.
Impressionen der Ausstellung
Gegen Massenausstellungen der Genossenschaften
Alles nicht falsch, aber zu einseitig. Wie die Kuratoren im vorzüglichen Katalog erläutern, waren die Secessionen von Anfang an stilistisch offen und eng vernetzt. Mehrfach-Mitgliedschaften waren üblich und häufig; man belieferte sich gegenseitig mit Werken für Ausstellungen und arbeitete auch sonst zusammen. Da die Münchener Secession für ihre erste Ausstellung keine Räume fand, veranstaltete sie diese kurzerhand in Berlin. Umgekehrt zogen die Impressionisten Max Slevogt und Lovis Corinth wegen Konflikten in der Münchener Secession 1901 nach Berlin um und übernahmen Führungspositionen in der dortigen Secession.
Der Streit drehte sich darum, wer welche Bilder ausstellen durfte – ein Dauerthema. Denn der Impuls zur Secessions-Gründung war weniger ästhetisch als vielmehr ökonomisch motiviert. Zuvor beherrschten städtische Künstlergenossenschaften die Szene. Diese Berufsverbände für alle Künstler richteten nach dem Vorbild des Pariser Salons Massenausstellungen aus. Tausende von Bildern wurden in mehreren Reihen an die Wände gehängt, Skulpturen in reich dekorierte Räume gestopft. In solcher Überfülle ging das einzelne Werk völlig unter.
Schlanke Ausstellungen mit 500 Exponaten
Zum Leidwesen der Teilnehmer: Sie waren auf Verkäufe bei Ausstellungen angewiesen. Dem optischen overkill begegneten die Secessionen mit Konzentration aufs Wesentliche: Eine strenge Jury-Auswahl hob das Niveau deutlich an. Zugleich änderte man die Präsentation. Gemälde wurden nur noch in einer Reihe vor dezent farbigem Hintergrund gehängt, damit sie besser wirken konnten – in eigens dafür errichteten Pavillons. Das von Josef Maria Olbrich entworfene, 1898 eingeweihte Gebäude der Wiener Secession – als einziges bis heute erhalten – ist innen als white cube mit variabel nutzbaren Räumen gestaltet und damit ein Vorbild des heutigen Ausstellungsbetriebs.
Dort wurden bei der Premiere rund 500 Werke ausgestellt, ähnlich viele bei der ersten Schau der Berliner Secession. Ihr Münchener Pendant hatte 1893 zur Premiere an ihrem Standort noch 900 Exponate aufgeboten. Solche Mengen galten als schlank – das Publikum dankte mit großem Zuspruch. In zwei bis drei Monaten Laufzeit zogen die Ausstellungen regelmäßig circa 50.000 Besucher an; ein beachtlicher Teil der gezeigten Werke fand Abnehmer.
Van Gogh, Munch + Picasso erstmals vorgestellt
Zur Popularität trug auch die Internationalität der Veranstaltungen bei. Schon die Secessionen selbst hatten ausländische Vorbilder, etwa der Brüsseler Künstlerbund „Les XX“ („Die Zwanzig“) von 1883 oder die im Folgejahr gegründete „Société des artistes indépendants“ in Paris. Ein wichtiges Ziel ihrer deutschen Nachfolger war, das heimische Publikum mit wichtigen Tendenzen moderner Kunst in ganz Europa bekannt zu machen. Heutige Weltstars wie Vincent van Gogh, Edvard Munch und Pablo Picasso wurden hierzulande erstmals in Secessions-Schauen ausgiebig vorgestellt.
Doch was genau zählt als moderne Kunst? Das war ständig umstritten. Nur als gänzlich überholt angesehene Spielarten wie possierliche Genre-Malerei oder pathetische Historien-Schinken blieben außen vor. Davon abgesehen zeigten die Ausstellungen gemeinhin eine bemerkenswert große Vielfalt von Sujets und Techniken; schließlich hatten die Secessionen rund 100 Mitglieder, die alle berücksichtigt werden wollten. Das schloss eine Beschränkung auf wenige Kunstströmungen aus.
Stil-Pluralismus wird zum Auftakt durchkreuzt
Diesen Stil-Pluralismus reproduziert die Präsentation in der Alten Nationalgalerie, die 2024 im Wien Museum zu sehen sein wird. Wobei sie ihren eigenen Ansatz im Auftakt-Saal sogleich durchkreuzt: Der ist nämlich allein den drei Leitwölfen Gustav Klimt, Franz von Stuck und Max Liebermann gewidmet, deren Namen auch der Ausstellungstitel auflistet – die Erwartung an ihre Werbewirkung war wohl übermächtig. Der Schwerpunkt liegt auf Klimt; von ihm sind 14 Gemälde und mehr als 40 Zeichnungen zu sehen, letztere allerdings meist flüchtige Skizzen.
Abwechslungsreicher sind ein Dutzend Kabinette zu verschiedenen Themen wie Porträts, Landschaften und Interieurs; sie führen die enorme Bandbreite der Kunst um 1900 anschaulich vor. Vor allem anhand von Künstlern aus der zweiten Reihe, deren Werke mittlerweile selten zu sehen sind. Die „Dame in Gelb“ (1899) von Max Kurzweil umgreift selbstbewusst mit beiden Armen die Rückenlehne ihres Sofas, während sie den Betrachter verächtlich anblickt. Seine Gattin „Martha am Ufer in Pont-Aven (Weiher)“ verschwindet dagegen fast in ihrem blauen Kleid und türkisem Hut im hell- bis dunkelgrünen Farbflimmern der Natur.
Georg Kolbe als symbolistischer Maler
Modernes Leben inspiriert gleichfalls moderne Kunst. In der „Loge im Sophiensaal“, die der Wiener Josef Engelhart 1903 malt, beugt sich eine tief dekolletierte Salondame so herausfordernd einem Frackträger zu, dass der erschrocken zurückfährt. Hingegen hält Eugen Spiro das Publikum einer „Theaterloge in Paris“ 1907 mit geradezu proto-expressionistischen Pinselstrichen fest. Im Vergleich dazu wirkt die naturalistisch engagierte Kunst von Käthe Kollwitz oder Hans Baluschek stilistisch konventionell und altbacken.
So lassen sich allerlei überraschende Entdeckungen machen. Georg Kolbe, als Bildhauer bekannt, ist mit dem symbolistischen Gemälde „Die goldene Insel“ von 1898 vertreten; einer verrätselten, aber atmosphärisch betörenden Symphonie aus Gelb- und Brauntönen. Seine in Wien tätige russische Kollegin Teresa Feodorowna Ries beeindruckt mit einem lebensgroßen „Selbstbildnis“ von 1902. Maria Slavona lebte ab 1890 in Paris, war aber korrespondierendes Mitglied der Berliner Secession; sie bestückte deren Ausstellungen mit postimpressionistischen Stadtansichten in delikat gedämpften Farben.
Internationalitäts-Abteilung enttäuscht
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Gustav Klimt" - einzige deutsche Retrospektive zum 100. Todestag im Kunstmuseum Moritzburg
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Ich. Max Liebermann - ein europäischer Künstler" - hervorragende Werkschau im Kunstpalast Düsseldorf
und hier eine Kritik der Ausstellung "Malerfürsten" - umfassende Überblicks-Schau mit Werken von Franz von Stuck in der Bundeskunsthalle, Bonn
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Kunst für Alle – Der Farbholzschnitt in Wien um 1900" - exzellente Themen-Schau in Frankfurt/ Main + Wien
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Architekturträume des Jugendstils" mit Entwürfen von Joseph Maria Olbrich, dem Architekten des Wiener Secessionsbaus, in der Kunstbibliothek, Berlin.
Dennoch: Am Ende des Rundgangs hat man verstanden, wie und warum sich die Secessionen binnen weniger Jahre als zentrale Institutionen im Kunstbetrieb etabliert hatten. Im heutigen PR-Sprech: Sie waren etablierte Marken geworden – so sehr, dass etwa die stets aufwändig gestalteten Plakate für die Ausstellungen der Wiener Secession nach 1900 immer verspielter und unleserlicher wurden. Erkennbarkeit war nicht mehr nötig; das Publikum strömte auch so.
Spaltpilz wucherte in München
Allerdings nur für wenige Jahre: Mit dem Austritt der so genannten Stilisten um Gustav Klimt 1905 endete die Hochzeit der Wiener Secession. Ein ähnliches Geschick ereilte die Berliner Secession 1913, als sie 44 Künstler unter Führung von Liebermann und Slevogt verließen; die Abtrünnigen gründeten die „Freie Secession“. Noch ärger wucherte der Spaltpilz in München: Zwischen 1894 und 1913 formierten sich dort nicht weniger als zehn verschiedene Künstler-Gruppen.
Alle einte der Überdruss an Secessionen, die sie inzwischen als eingerostet und unaufgeschlossen für Neues empfanden. Wie das Motto am Wiener Gebäude lautete: „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“ – erstere war für die Secessionen am Vorabend des Ersten Weltkriegs weitgehend abgelaufen.