Köln

Ukrainische Moderne 1900–1930 & Daria Koltsova

Oleksandr Bohomazow: Schärfen der Sägen, 1927, Öl auf Leinwand, 138 x 155 cm, Nationales Kunstmuseum der Ukraine. Fotoquelle: Museum Ludwig
Same same but different: Ostslawische Künstler wurden lange als „Russische“ oder „Sowjetische Avantgarde“ etikettiert, obwohl sie aus der Ukraine kamen und dort wirkten. Deren Beitrag zur Klassischen Moderne präsentiert das Museum Ludwig in einer exquisiten Ausstellung mit erstklassiger Werkauswahl.

Es ist, als werde eine neue Kunst-Nation entdeckt. Sie war schon lange da, wurde aber als solche nicht anerkannt – nicht einmal von sich selbst. Wie eigenständig die Ukraine und ihre Kultur sind, war und ist bis heute umstritten – abhängig vom jeweiligen Landesteil und politischen Überzeugungen. Wobei der russische Angriffskrieg das ukrainische Nationalbewusstsein gefestigt hat wie nichts anderes zuvor. Dennoch bleibt die Frage: Was genau ist genuin ukrainisch?

 

Info

 

Ukrainische Moderne 1900–1930
& Daria Koltsova

 

03.06.2023 - 24.09.2023

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr,

jeden 1. Donnerstag im Monat bis 22 Uhr

im Museum Ludwig,  Heinrich-Böll-Platz, Köln

 

Katalog 25 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Sie zu stellen, ist in Europa nichts Neues. Die meisten osteuropäischen Völker haben erst im 19. Jahrhundert die kulturelle Hegemonie der Imperien abgeschüttelt, denen sie angehörten; das nannte man „nationale Wiedergeburt“. Norwegen, das sich 1905 aus der Union mit Schweden löste, und Irland, das in einem Guerillakrieg 1921 die Unabhängigkeit von Großbritannien erkämpfte, standen vor ähnlichen Problemen: Jahrhunderte der Überfremdung und Assimilation an Kolonialmächte ließen fraglich erscheinen, was an der heimischen Kultur noch autochthon war.

 

Kulturelle Dekolonisierung im Krieg

 

Doch keines dieser Länder ist so groß und bevölkerungsreich wie die Ukraine. Und keines musste sich derartiger Brutalität und Zerstörungswut der Kolonisatoren erwehren. Trotzdem hat mitten im Krieg ein Prozess entschiedener kultureller Dekolonisierung eingesetzt. Im Bereich der bildenden Kunst betrifft das vor allem die heroische Phase der ostslawischen Moderne, die kurz nach 1900 begann und Ende der 1920er Jahre auslief. Die Phase vor der Oktoberrevolution wird gemeinhin „Russische Avantgarde“ und die nach ihr „Sowjetische Avantgarde“ genannt.

Impressionen der Ausstellung


 

50 Leihgaben des Nationalen Kunstmuseums

 

Das soll sich ändern; mit dem triftigen Argument, etliche der damals aktiven Künstler seien nicht nur Ukrainer gewesen, sondern hätten auch vorwiegend in der Ukraine gearbeitet. Man könne also sehr wohl von einer „Ukrainischen Moderne“ sprechen; sie sei bislang fälschlich als „Russisch“ bzw. „Sowjetisch“ der Kolonialmacht subsumiert worden. Diese Position vertreten die Kuratoren einer Ausstellung, die zuerst im Madrider Museum Thyssen-Bornemisza zu sehen war und nun leicht verändert im Museum Ludwig gezeigt wird. Sie ist schlicht „Ukrainische Moderne 1900 – 1930“ betitelt, mit dem Zusatz „& Daria Koltsova“. Ab Mitte Oktober ist sie in den Brüsseler Königlichen Museen der Schönen Künste zu sehen.

 

Diese Schau ist ein Ereignis! Ganz unabhängig von aktuellen identitätspolitischen Kulturkämpfen, in die sie notgedrungen verwickelt ist: allein durch die exquisite Werkauswahl. Selbst wer noch nie von dieser Avantgarde gehört hat und nichts mit ihr verbindet, kann sie hier so konzentriert wie kompetent kennenlernen: anhand von rund 80 erstklassigen Exponaten, die alle damaligen Stile und Strömungen exemplarisch vorstellen. Circa 50 sind Leihgaben des Nationalen Kunstmuseums der Ukraine, die damit zugleich vor kriegsbedingten Schäden bewahrt werden sollen; 30 stammen aus anderen Häusern oder Privatsammlungen.

 

Verblüffende Entwürfe für Theaterbühnen

 

Dabei begeht die Zusammenstellung nicht den Fehler wie etwa die simultan laufende Schau „Kaleidoskop der Geschichte(n)“ im Dresdener Albertinum, auf die Schnelle 100 Jahre ukrainische Kunstentwicklung vorführen zu wollen, was Stückwerk bleiben muss. Im Gegenteil: Indem das Museum Ludwig sich auf drei Dekaden beschränkt, kann es quasi die Meistererzählung der Klassischen Moderne noch einmal exemplarisch durchdeklinieren – und zugleich den Blick für ukrainische Elemente und Beiträge schärfen. Bis zu einem gewissen Grad.

 

Und mit überraschenden Akzenten. Der Suprematismus-Weltstar Kasimir Malewitsch, der 1879 in Kiew geboren wurde, später aber nur noch kurz dort wirkte, ist nur mit ein paar Zeichnungen und zwei kleinformatigen Gemälden vertreten. Dagegen verblüffen zwei Dutzend Entwürfe für Bühnenbilder und Theaterkostüme von hierzulande kaum bekannten Künstlern wie Oleksandr Chwostenko-Chwostow, Wadim Meller oder Anatol Petryzkyj durch Originalität und kühne Grazie.

 

Erste Kunsthochschule 1917 gegründet

 

Ähnliche Werke von Alexandra Exter sind im Westen seit langem bekannt; gleichfalls ihre grandiosen kubofuturistischen Landschaften wie „Brücke. Sèvres“ (1912) und „Hafen“ (1912/14). Weniger hingegen die stilistisch verwandten, aber noch radikaleren Bilder von Oleksandr Bohomazow aus der Vorkriegsperiode. Sein wandfüllendes Gemälde „Schärfen der Sägen“ von 1927, Teil eines unvollendeten Triptychons, beeindruckt insbesondere durch sein Amalgam aus Experimentierfreude bei Komposition und Farbgebung mit einem proletarischen Sujet.

 

Das Entstehungsdatum weist auf den raschen Wandel im betrachteten Zeitraum hin. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es in der Ukraine noch keine Kunsthochschule. Nachwuchskünstler studierten in Moskau, Petersburg oder an westeuropäischen Akademien; entsprechend weltläufig sahen ihre Arbeiten aus. Ende 1917 entstand auch in Kiew eine Akademie, die ab 1924 als „Kiewer Kunst Institut“ firmierte: hier bildete sich eine spezifisch ukrainische Kunstauffassung heraus.

 

Ukrainisierung der Alltagskultur in 1920ern

 

Federführend war Mychajlo Bojtschuk: Aus Einflüssen der byzantinischen Sakralkunst und Fresken der Frührenaissance entwickelte er einen Monumentalstil mit schlichten und bäuerlichen Motiven. Daher erhielten er und seine Schüler etliche Aufträge, den öffentlichen Raum mit Wandbildern zu schmücken. Die Schau präsentiert ein halbes Dutzend kleinere Beispiele: Flächig aufgefasste Gestalten bei gewöhnlichen Tätigkeiten erscheinen nicht sonderlich aufregend, aber visuell eigenständig. Deutlich mehr als herkömmliche Folklore-Muster und -Trachten, die bei anderen Künstlern als Accessoires auftauchen.

 

Derlei war in den 1920er Jahren politisch erwünscht: Mit der Ukrainisierung der Alltagskultur wollten die Bolschewiki die Zustimmung der Bevölkerung gewinnen, wie in anderen Sowjetrepubliken auch. Gleichzeitig blieb die Außendarstellung der Sowjetunion rationalistisch-technisch geprägt, etwa auf der Internationalen Presseausstellung „Pressa“ 1928. In ihrem u.a. von El Lissitzki gestalteten Pavillon gab es eine ukrainische Abteilung, in der Wasyl Jermilow Volkskunst und konstruktivistisches Design zu verbinden suchte.

 

Sieben Meter langes Farbglasfenster

 

Dieser Stil-Pluralismus brach 1932 ab, als Stalin die Doktrin des Sozialistischen Realismus verkünden ließ. Am härtesten traf sie Bojtschuk und einige seiner Mitstreiter; sie wurden 1937 ermordet. Stalinistischer Verfolgung fielen derart viele ukrainische Künstler zum Opfer, das man von einer „Hinrichtung der Renaissance“ spricht. Zuvor hatten Maler wie Oleksandr Syrotenko und Konstjantyn Jelewa versucht, ihre ästhetischen Errungenschaften mit den neuen Proletkult-Vorgaben zu kombinieren – vergeblich.

 

An diese Vereinigung des Unvereinbaren erinnert der Beitrag von Daria Koltsova. Häufig erscheinen zeitgenössische Werke in Ausstellungen Alter Meister als entbehrlicher Appendix, hier aber nicht. Die 36-jährige Künstlerin aus Charkiw hat ein sieben Meter langes und vier Meter hohes Farbglasfenster angefertigt. Es zeigt die Silhouette des so genannten Derschprom-Gebäudes in ihrer Heimatstadt.

 

Herkunft + Zukunft, Tradition + Moderne

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Kaleidoskop der Geschichte(n) – Ukrainische Kunst 1912–2023" – Überblicksschau im Albertinum, Dresden

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde" über Kubofuturismus + Suprematismus in der Bundeskunsthalle, Bonn

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "El Lissitzky und eine Rolle Plakate" – avantgardistisches Plakatdesign aus der frühen Sowjetunion u.a. zur Internationalen Presseschau 1928 in Köln im Sprengel Museum, Hannover

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Schwestern der Revolution" über Künstlerinnen der sowjetischen Avantgarde mit Werken von Alexandra Exter im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen.

 

Das ab 1925 errichtete „Haus der staatlichen Industrie“, eigentlich ein halbrunder Gebäude-Komplex aus mehreren Blöcken, gilt als Meisterwerk konstruktivistischer Architektur. Über ihm verströmt ein leuchtender Kreis samt Kreuz seine Strahlen in alle Richtungen; er ist mit traditionellen Ornamenten verziert. Das Ganze wirkt wie die säkulare Version eines Kirchen-Bleiglasfensters, das Herkunft und Zukunft, Tradition und Moderne miteinander verknüpft – unabhängig vom Streit um nationale Zuschreibungen.

 

Der dürfte noch länger andauern und oft kaum zu beantworten sein. Ein Beispiel: Alexandra Exter wurde 1882 in Białystok geboren, das von 1807 an im Russischen Reich lag; seit 1919 gehört die Stadt zu Polen. Ihr Vater war russischer Jude, ihre Mutter Griechin. Bald nach ihrer Geburt zog die Familie nach Kiew, wo sie ab 1901 ihre Ausbildung erhielt. Von 1907 bis 1914 lebte Exter abwechselnd in Kiew, Moskau und Paris; sie stellte regelmäßig in den drei Städten aus und war in Kunstkreisen bestens vernetzt.

 

Biographie passt nicht in Grenzen

 

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang Exter, im Russischen Reich zu bleiben. 1917 eröffnete sie in Kiew ein Atelier, in dem die städtische Intelligenzija verkehrte. Auf Flucht vor dem Bürgerkrieg ließ sie sich 1919 in Odessa nieder, stellte in Berlin aus und lehrte später in Moskau. 1924 emigrierte sie nach Frankreich; fortan lebte sie in einem Pariser Vorort bis zu ihrem Tod 1949. Ist Exter nun eine „russisch-französische Malerin“, wie Wikipedia behauptet, oder eine ukrainische? Historische Biographien fügen sich häufig nicht den Abgrenzungsbedürfnissen der Gegenwart.