
Der Tag bricht an. Zartlila Wölkchen ziehen am altrosa Horizont entlang und spiegeln sich in der glatten Wasseroberfläche. Darüber gleitet leise tuckernd ein flacher Kahn; seine Bugwellen bringen ein wenig Bewegung in den ansonsten statischen Anblick. Nur Himmel, Meer und Baumsilhouetten in der Ferne: Der Mann im Boot könnte ein Ureinwohner in den nördlichen Weiten Kanadas oder an Sibiriens Pazifikküste sein. Doch er fährt über die Lagune von Venedig.
Info
Welcome Venice
Regie: Andrea Segre,
103 Min., Italien 2021;
mit: Paolo Pierobron, Andrea Pennacchi, Sara Lazzaro
Weitere Informationen zum Film
Plötzlicher Tod beim Krebsfang
Sofern es das Wetter erlaubt, zieht die Brüder im Morgengrauen los und steuert unbewohnte Salzmarschen an, die bei Ebbe aus dem Wasser ragen. Dort legen sie Netze und Reusen aus, holen sie später wieder ein und picken die gefangenen Krebse heraus. Eine eintönige und beschwerliche, aber auskömmliche Arbeit: Die Krustentiere werden auf dem Fischmarkt gut bezahlt. Die Filmhandlung kommt in Gang, als Toni plötzlich stirbt – an einer natürlichen, aber extrem seltenen Todesart.
Offizieller Filmtrailer OmU
Piero will nicht ausziehen
Denn ihr kleines Haus auf Giudecca gehört zu je einem Drittel ihm, Piero sowie ihrem Bruder Alvise (Andrea Pennacchi). Der ist aus der Art geschlagen: Er kann nicht schwimmen, pfeift aufs Fischen und verdient Geld, indem er Wohnungen anmietet und dort mittels Internet-Portalen wie Booking.com oder Airbnb tageweise Feriengäste einquartiert. Bislang – nun bleiben während der Corona-Epidemie die Urlauber aus, und Alvises Schulden bei den Vermietern steigen ständig.
Tonis Tod bringt Alvise auf eine Geschäftsidee: Er will seiner Witwe ihr Drittel abkaufen und das Haus der Familie in ein Feriendomizil umwandeln – dann hätten alle ausgesorgt. Doch Piero weigert sich auszuziehen; wortkarg, aber beharrlich. Alle Versuche der übrigen Familienmitglieder, ihn umzustimmen, fruchten nichts; nicht einmal das Flehen von Alvises schwangerer Tochter (Sara Lazzaro). Mit ihrem Mann Giorgio, einem Immobilien-Makler, geht Alvise einen riskanten Handel ein, für den er den Familienbesitz verpfänden muss; damit drängt er Piero vollends in die Ecke.
Touristen kommen + gehen, Krebse bleiben
Was Regisseur Andrea Segre am Beispiel einer Familie verhandelt, ist im Grunde der Konflikt von ganz Venedig: bleiben oder gehen? Stolz an Traditionen festhalten, die Identität verleihen, oder sich den Abschied vergolden lassen? Touristen kämen und gingen, doch Krebse werde es immer geben, hält Pietro seinem geschäftstüchtigen Bruder vor; in Zeiten von Klimawandel und overtourism scheint das fraglich. Zumal das empfindliche Lagunen-Biotop durch Kreuzfahrtschiffe und Übernutzung stark bedroht ist.
Auf elementarer Ebene stoßen zwei Lebensmodelle gegeneinander. Piero bezieht sein Selbstwertgefühl aus produktiver Arbeit. Als Eigentherapie: Er saß wegen Diebstahls im Gefängnis und konnte nicht für seine Frau sorgen, als sie an einer Krankheit zugrunde ging, was ihm seine Tochter verbittert vorhält. Deshalb schreckt ihn die Aussicht auf komfortables Nichtstun in Mestre, Venedigs Stadtteil auf dem Festland.
Freiluftmuseum + Spekulationsobjekt
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Venezianische Freundschaft" – einfühlsam-malerisches sino-italienisches Einwanderer-Drama von Andrea Segre
und hier eine Besprechung des Films "Peggy Guggenheim - Ein Leben für die Kunst – kurzweilig-informative Doku über die in Venedig wohnende Kunst-Mäzenin von Lisa Immordino Vreeland
und hier einen Beitrag über die eindrucksvolle Doku "Das Venedig Prinzip" über den Verfall durch Massentourismus von Andreas Pichler.
Diese Polarität verleiht einem lokalen Problem kontinentweite Bedeutung. Halb Europa, zumindest seine Metropolen und hotspots, wird allmählich zum Freiluftmuseum und Spekulationsobjekt, wie es Venedig längst ist: für amüsierwütige Besucher und zahlungskräftige Investoren aus Amerika und Asien. Während viele seiner Einwohner nur noch von der Rendite ihres Erbes und kulturellen Kapitals leben: als Fremdenführer, Hoteliers und Gastronomen oder Kunstgaleristen. Neues geschaffen wird anderswo.
Spektakuläre Schlusspointe
Diesen Befund führt Andrea Segre nüchtern und anschaulich vor. Da verzeiht man dem Film gern, dass die Handlung etwas schematisch und überraschungsarm abläuft; außer Bleiben oder Gehen gibt es eben keine weiteren Optionen. Dafür entschädigen betörend malerische Ansichten der Lagune bei Tagesanbruch, die Nichtvenezianer sonst nie zu sehen bekommen – und die recht gesuchte, aber nichtsdestoweniger spektakuläre Schlusspointe.