Andrea Segre

Welcome Venice

Die Brüder Piero (Paolo Pierobron), Alvise (Andrea Pennacchi) und Toni (Roberto Citran, v.l.n.r.) gehören zu einer alten Fischerfamilie aus Giudecca. Foto: Kairos Filmverleih
(Kinostart: 3.8.) Ausharren oder Wegziehen? Vor dieser Frage stehen Venezianer, während sich ihre Stadt in eine Tourismus-Kulisse verwandelt. Das Dilemma behandelt Regisseur Andrea Segre am Beispiel einer Fischer-Familie: nüchtern und etwas schematisch, aber mit malerischen Ansichten der Lagune.

Der Tag bricht an. Zartlila Wölkchen ziehen am altrosa Horizont entlang und spiegeln sich in der glatten Wasseroberfläche. Darüber gleitet leise tuckernd ein flacher Kahn; seine Bugwellen bringen ein wenig Bewegung in den ansonsten statischen Anblick. Nur Himmel, Meer und Baumsilhouetten in der Ferne: Der Mann im Boot könnte ein Ureinwohner in den nördlichen Weiten Kanadas oder an Sibiriens Pazifikküste sein. Doch er fährt über die Lagune von Venedig.

 

Info

 

Welcome Venice

 

Regie: Andrea Segre,

103 Min., Italien 2021;

mit: Paolo Pierobron, Andrea Pennacchi, Sara Lazzaro

 

Weitere Informationen zum Film

 

Piero (Paolo Pierobron) und sein Bruder Toni (Roberto Citran) sind Sprösslinge einer alteingesessenen Fischerfamilie. Tag für Tag fangen sie in der Lagune die moeche genannten Krebse; wie ihre Vorfahren seit vielen Generationen. Sie leben auf der venezianischen Insel La Giudecca – nicht auf der nördlichen Schauseite mit der Kirche „Il Redentore“, dem klassizistischen Meisterwerk von Andrea Palladio, und Panoramablick auf den Dogenpalast samt Markusplatz. Sondern am Südufer mit freier Sicht auf die Lagune, wo gewöhnliche Wohnhäuser stehen – noch.

 

Plötzlicher Tod beim Krebsfang

 

Sofern es das Wetter erlaubt, zieht die Brüder im Morgengrauen los und steuert unbewohnte Salzmarschen an, die bei Ebbe aus dem Wasser ragen. Dort legen sie Netze und Reusen aus, holen sie später wieder ein und picken die gefangenen Krebse heraus. Eine eintönige und beschwerliche, aber auskömmliche Arbeit: Die Krustentiere werden auf dem Fischmarkt gut bezahlt. Die Filmhandlung kommt in Gang, als Toni plötzlich stirbt – an einer natürlichen, aber extrem seltenen Todesart.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Piero will nicht ausziehen

 

Denn ihr kleines Haus auf Giudecca gehört zu je einem Drittel ihm, Piero sowie ihrem Bruder Alvise (Andrea Pennacchi). Der ist aus der Art geschlagen: Er kann nicht schwimmen, pfeift aufs Fischen und verdient Geld, indem er Wohnungen anmietet und dort mittels Internet-Portalen wie Booking.com oder Airbnb tageweise Feriengäste einquartiert. Bislang – nun bleiben während der Corona-Epidemie die Urlauber aus, und Alvises Schulden bei den Vermietern steigen ständig.

 

Tonis Tod bringt Alvise auf eine Geschäftsidee: Er will seiner Witwe ihr Drittel abkaufen und das Haus der Familie in ein Feriendomizil umwandeln – dann hätten alle ausgesorgt. Doch Piero weigert sich auszuziehen; wortkarg, aber beharrlich. Alle Versuche der übrigen Familienmitglieder, ihn umzustimmen, fruchten nichts; nicht einmal das Flehen von Alvises schwangerer Tochter (Sara Lazzaro). Mit ihrem Mann Giorgio, einem Immobilien-Makler, geht Alvise einen riskanten Handel ein, für den er den Familienbesitz verpfänden muss; damit drängt er Piero vollends in die Ecke.

 

Touristen kommen + gehen, Krebse bleiben

 

Was Regisseur Andrea Segre am Beispiel einer Familie verhandelt, ist im Grunde der Konflikt von ganz Venedig: bleiben oder gehen? Stolz an Traditionen festhalten, die Identität verleihen, oder sich den Abschied vergolden lassen? Touristen kämen und gingen, doch Krebse werde es immer geben, hält Pietro seinem geschäftstüchtigen Bruder vor; in Zeiten von Klimawandel und overtourism scheint das fraglich. Zumal das empfindliche Lagunen-Biotop durch Kreuzfahrtschiffe und Übernutzung stark bedroht ist.

 

Auf elementarer Ebene stoßen zwei Lebensmodelle gegeneinander. Piero bezieht sein Selbstwertgefühl aus produktiver Arbeit. Als Eigentherapie: Er saß wegen Diebstahls im Gefängnis und konnte nicht für seine Frau sorgen, als sie an einer Krankheit zugrunde ging, was ihm seine Tochter verbittert vorhält. Deshalb schreckt ihn die Aussicht auf komfortables Nichtstun in Mestre, Venedigs Stadtteil auf dem Festland.

 

Freiluftmuseum + Spekulationsobjekt

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Venezianische Freundschaft" – einfühlsam-malerisches sino-italienisches Einwanderer-Drama von Andrea Segre

 

und hier eine Besprechung des Films "Peggy Guggenheim - Ein Leben für die Kunst – kurzweilig-informative Doku über die in Venedig wohnende Kunst-Mäzenin von Lisa Immordino Vreeland

 

und hier einen Beitrag über die eindrucksvolle Doku "Das Venedig Prinzip" über den Verfall durch Massentourismus von Andreas Pichler.

 

Alvise hingegen lässt lieber arbeiten; etwa seine Tochter, die sich um die Verwaltung der Übernachtungs-Quartiere kümmert. Nach einer solchen Rentiers-Existenz sehnen sich die meisten Akteure im Film – daran lässt Regisseur Segre, der aus Dolo nahe Venedig stammt und dessen Dokumentar- wie Spielfilme häufig die Region beleuchten, keinen Zweifel. Behaglich wohnen, lecker essen, guten Wein trinken, gelegentlich zum Vergnügen über die See schippern – was will man mehr?

 

Diese Polarität verleiht einem lokalen Problem kontinentweite Bedeutung. Halb Europa, zumindest seine Metropolen und hotspots, wird allmählich zum Freiluftmuseum und Spekulationsobjekt, wie es Venedig längst ist: für amüsierwütige Besucher und zahlungskräftige Investoren aus Amerika und Asien. Während viele seiner Einwohner nur noch von der Rendite ihres Erbes und kulturellen Kapitals leben: als Fremdenführer, Hoteliers und Gastronomen oder Kunstgaleristen. Neues geschaffen wird anderswo.

 

Spektakuläre Schlusspointe

 

Diesen Befund führt Andrea Segre nüchtern und anschaulich vor. Da verzeiht man dem Film gern, dass die Handlung etwas schematisch und überraschungsarm abläuft; außer Bleiben oder Gehen gibt es eben keine weiteren Optionen. Dafür entschädigen betörend malerische Ansichten der Lagune bei Tagesanbruch, die Nichtvenezianer sonst nie zu sehen bekommen – und die recht gesuchte, aber nichtsdestoweniger spektakuläre Schlusspointe.