
Niemand macht sich um die Aufbereitung klassischer englischer Literatur fürs Kino so verdient wie Kenneth Branagh. Erst verfilmte er ein halbes Dutzend Shakespeare-Dramen, dann wandte er sich den Krimis von Agatha Christie zu. Mit „Mord im Orient Express“ (2017) und „Tod auf dem Nil“ (2022) brachte er zwei der populärsten Fälle von Meisterdetektiv Hercule Poirot auf die Leinwand. Nun hat er sich ein weniger bekanntes Nebenwerk ausgesucht.
Info
A Haunting in Venice
Regie: Kenneth Branagh,
103 Min., USA 2023;
mit: Kenneth Branagh, Kyle Allen, Camille Cottin, Jamie Dornan
Weitere Informationen zum Film
Ruheständler Poirot lebt isoliert
Der Film verlegt die Handlung aus der englischen Provinz ins Venedig des Jahres 1947: Zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs bevölkern Verarmte und Vertriebene die Gassen und Kanäle. Dorthin hat sich auch Hercule Poirot (Branagh) zurückgezogen, desillusioniert vom Lauf der Welt. Er verbringt seine Tage schweigsam und isoliert; Angehörigen von Verbrechensopfern, die seine Hilfe suchen, versperrt Diener Portfoglio (Riccardo Scamarcio) den Zutritt.
Offizieller Filmtrailer
Erst Kinderparty, dann Spiritisten-Séance
Bis seine alte Freundin Ariadne Oliver (Tina Fey) auftaucht: Die Krimiautorin schleppt ihn zu einem verrufenen alten Palazzo nahe des Canale Grande. Dort soll am Vorabend von Allerheiligen eine Halloween-Party für Kinder stattfinden – als Reminiszenz an die Romanvorlage. Anschließend bittet die Hausherrin Rowena Drake (Kelly Reilly), eine berühmte Ex-Opernsängerin, zur spiritistischen Séance mit dem Medium Joyce Reynolds (Michelle Yeoh). Autorin Oliver hält sie für eine Betrügerin, kann ihr aber nichts nachweisen – und bittet Poirot, sie zu entlarven.
Schon die Kinderparty in venezianischen Karnevals-Kostümen verläuft wesentlich düsterer, als man das auf einem britischen Landsitz erwarten würde: In den Palazzo-Gemäuern verhungerte einst eine Schar eingesperrter Waisenkinder. Nun sollen ihre gequälten Seelen nach Rache dürsten und jedes ihrer Opfer mit den Kratzspuren einer Kralle brandmarken. Mit dem Auftritt von Reynolds lässt der Film endgültig Personal und Plot des Christie-Romans hinter sich.
Waterboarding-Attentat auf Detektiv
Die Geister-Beschwörerin soll im Auftrag der Hausherrin ihre geliebte Tochter Alicia kontaktieren; sie fiel vor einiger Zeit vom Balkon in den Kanal und wurde leblos geborgen. Ihre Ein-Buchstaben-Botschaften aus dem Jenseits werden aber von Poirot rasch als Humbug enttarnt, den Reynolds mit zwei Gehilfen inszeniert. Sehr real ist hingegen ihr eigener Tod, als sie ebenfalls von einer Galerie herabstürzt. Sie wird nicht die einzige bleiben, die in dieser Nacht gewaltsam ums Leben kommt.
Dem bzw. den Tätern kommt der Detektiv mit bewährten Methoden auf die Schliche: Abriegelung des Tatorts, Reihum-Befragungen aller Anwesenden, sodann Aufdeckung von Widersprüchen mithilfe von Beobachtungen, die er en passant macht. Einmal sogar unter Lebensgefahr: Ein maskierter Unbekannter will ihn hinterrücks in einem Wasserbecken ertränken. Dieser Attentatsversuch ist nur einer von vielen rätselhaften Vorgängen, die Poirot alsbald an seinem Verstand zweifeln lassen.
Im Palast verschanzt wie Decamerone-Figuren
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Tod auf dem Nil" – opulente Agatha-Christie-Neuverfilmung von Kenneth Branagh
und hier eine Besprechung des Films "Mord im Orient Express" – spannende Adaption des Krimi-Klassikers von Kenneth Branagh
und hier einen Beitrag über den Film "Welcome Venice" – malerisches Gentrifizierungs-Drama am Beispiel einer Fischer-Familie in Venedig von Andrea Segre
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Geheimgesellschaften" – Mysteriös-Esoterisches als Thema der Kunst in der Schirn, Frankfurt/Main.
„A Haunting in Venice“ lässt sich unschwer als Parabel auf die Gegenwart begreifen. Dass sich die Oberschicht mitsamt Gesinde in ihren Palästen verschanzt, um sich äußere Bedrohungen vom Leibe zu halten, ist ein gängiger Topos seit Bocaccios „Decamerone“ – im 14. Jahrhundert ging es um Flucht vor der Pest. Dass im Komfort Eingeschlossene lieber esoterischen Geisterglauben bemühen, anstatt ihr Verhalten zu ändern, zeigt die aktuelle Beliebtheit verstiegener Verschwörungstheorien. Logisches Schlussfolgern, auf dem Poirot beharrt, ist ja mühevoll.
Sonnenaufgang über Verfalls-Denkmal
Aber unerlässlich zur Gefahrenabwehr: Durch Verbarrikadieren kommt man weder mit steigenden Wasser- noch herumirrenden Flüchtlingsmassen zurecht, denn beim Klimawandel bedingt ersteres letzteres. Am nächsten Morgen, nachdem der Detektiv alle nächtlichen Verstrickungen entwirrt hat, scheint erstmals die Sonne über Venedig – diesem unübertrofflichen Großdenkmal für den allmählichen Niedergang von Europas Kulturerbe. Man darf gespannt sein, welchen Agatha-Christie-Schmöker Branagh als nächsten mit einem Rückgriff auf die Vergangenheit radikalmodernisieren wird.