
Eine Frau strebt spätabends mit einem Kleinkind auf dem Arm über einen schlammigen Feldweg ihrem Dorf zu. Wohl eine Bäuerin: langer Rock, dunkles Kopftuch. Am Himmel steht schon der Sichelmond. Auf Anhieb erkennt man kaum etwas auf dem riesigen Gemälde von Jozef Israëls, so düster ist es. Die Augen müssen sich erst auf das schwindende Licht einstellen. Dann tritt auch die weite, flache Landschaft mit vereinzelten niedrigen Gehöften am Horizont hervor. Öde wirkt diese Landschaft, ohne malerischen Reiz. Und das soll Impressionismus sein? Gab es das überhaupt, einen niederländischen Impressionismus?
Info
Wolken und Licht –
Impressionismus in Holland
08.07.2023 - 22.10.2023
täglich außer dienstags 10 bis 19 Uhr
im Museum Barberini, Alter Markt, Potsdam
Katalog 34 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Einflüsse aus Frankreich ab 1880
Der jüdische Maler Jozef Israëls aus Groningen zählte zu den Pionieren des Aufbruchs in die Moderne. Eigentlich waren seine düsteren Bilder eher realistisch, nicht impressionistisch. Doch die folgende Maler-Generation knipste das Licht an, und zwar mit Nachdruck: Alles Dämmrige und Elegische wird konsequent beiseite gefegt. Ab den 1880er Jahren wurde der Einfluss des französischen Impressionismus in den Niederlanden deutlich spürbar; das zeichnet die Schau anhand von etwa 100 Werken nach.
Feature zur Ausstellung. © Museum Barberini, Potsdam
Kühe vor Wassergraben unter Wolken
Alles beginnt mit der so genannten Haager Schule, die sich um 1870 formierte. Ihr damaliger internationaler Ruhm ist seit langem verblasst; vielleicht zu Unrecht. Ende des 19. Jahrhundert zahlten zahlungskräftige Sammler, sogar in den USA, enorme Summen für Bilder von Jacob Maris, Anton Mauve oder Willem Roelofs. Dabei wirken ihre Landschaften aus heutiger Sicht völlig unspektakulär.
Diese Maler richten den Blick auf heimische Gegenden – und die sind in den Niederlanden nun einmal ohne Erhebungen. Keine Anhöhe fesselt den Blick. Stets herrscht auf diesen meist breitformatigen Leinwänden trübes Wetter. Kein Sonnenstrahl zeigt sich. Dafür beanspruchen enorme Wolkenhimmel die Aufmerksamkeit, mit stetig wechselnden Nuancen zwischen hellgrau, blassblau, wattigweiß und regengrau. Davor grasen vielleicht ein paar Kühe an einem Wassergraben. Mehr ist nicht.
Verschwindendes ohne Nostalgie
Selbstredend hatten die jungen Maler, die sich in Den Haag zusammenfanden, ihre berühmten Vorläufer gründlich studiert. Wie einst Jan Vermeer oder Jacob van Ruisdael im 17. Jahrhundert komponierten jetzt Jan Hendrick Weissenbruch oder Johann Barthold Jongkind ihre Delft-Ansichten und Polderlandschaften. Doch etwas ist anders als bei den Alten Meistern: Die Stimmung ist nüchterner, die Farbgebung heller, die Pinselführung lockerer.
Diese Maler waren Zeitgenossen der Industrialisierung, die alle Bereiche der zuvor agrarischen Gesellschaft veränderte. Aber Eisenbahntrassen, Telegrafendrähte oder Fabrikschornsteine kommen fast nie vor. Die Bilder zeigen stattdessen etwas, das schon im Verschwinden begriffen war – aber sie zeigen es ohne nostalgische Süße. Gerade die Mischung aus Tradition und Moderne sprach offenbar etwa das US-Publikum an.
Windmühlen als Identifikationssymbole
Zum Fixpunkt dieser Motivwelt werden holländische Windmühlen. Mächtig ragen ihre schräggestellten Flügel vor schimmerndem Abendhimmel oder im kühlen Tageslicht auf. Mal reihen sich gleich mehrere Mühlen aneinander, mal bildet nur eine den fernen Bezugspunkt. Solche Windmühlen waren im Land tatsächlich allgegenwärtig, doch sie standen zunehmend still. Dampfmaschinen übernahmen die Aufgabe, das tiefliegende Polderland zu entwässern, Getreide zu malen oder Lumpen zu Papier zu stampfen.
Für den wachsenden niederländischen Nationalstolz wurde die Windmühle zum Identifikationssymbol. 1830 hatten sich die südlichen Provinzen abgespalten und das Königreich Belgien gegründet. Das beförderte ein Bedürfnis nach spezifisch nationalen Kulturtraditionen, wie in vielen Staaten Europas der Epoche. Die realistischen, unspektakulären Landschaften der Haager Schule kamen da zur rechten Zeit. Ihr silbriges Licht und subtiles Grau ließen das Alltägliche, Unscheinbare kostbar erscheinen.
Mit der Straßenbahn an den Strand
Diese wunderbar zurückhaltende, nuancenreiche Farbgebung kommt insbesondere bei Meeresansichten zur Geltung. Hier war vor allem Jacob Maris in seinem Element: Sein großes Gemälde „Muschelfischer“ bildet fast nichts ab. Die titelgebenden Arbeiter gehen verschwindend klein ihrem traditionellen Tagwerk nach. Flache Wellen rollen auf den nassen Sand. Ein Möwenschwarm segelt. Ansonsten ist da nur der Wolkenhimmel zu sehen – er ist die Hauptsache.
Quasi nebenbei registrieren Künstler, wie die alten, bauchigen Holzkähne der Fischer namens „Bomschuiten“, stillgelegt werden. Stattdessen wird Rotterdams Seehafen ab 1872 gewaltig ausgebaut; zugleich wird der Tourismus populär. Aus den Großstädten Amsterdam und Rotterdam strömt das aufstrebende Bürgertum in die Sommerfrische. Von Den Haag aus fährt man mit der Straßenbahn direkt an den Strand.
Liebermann malt an der Nordseeküste
Jüngere Maler ziehen mit Leinwand und Staffelei hinterher. Nun wird das Strandleben auf den Uferpromenaden von Scheveningen oder Zandvoort zum Thema. Mädchen in hellen Sommerkleidern reiten auf Eseln, Sonnenschirme werden aufgeklappt, der Strandkorb kommt in Mode. Die oft skizzenhaften Bilder zeichnen auch ein Soziogramm der Gesellschaft. In den Dünen malt der junge Isaac Israëls teilweise gemeinsam mit seinem Vater. Auch der mit ihnen befreundete Max Liebermann gesellt sich dazu.
Andere Künstler reisen nach Paris, um die Werke der Impressionisten zu studieren. Die Eisenbahn macht es möglich; die Kunstszene internationalisiert sich. Anfangs erfuhr man in den Niederlanden nur aus Presseberichten von den aktuellen Strömungen in Frankreich, ohne die Werke selbst zu kennen. Das ändert sich. Tatsächlich breitet sich der Stil des Impressionismus zu dieser Zeit weltweit aus. Ob in Spanien, Kanada oder Russland – überall entstanden Varianten dieser Strömung mit eigenem Profil.
Erste Blumenbilder von Van Gogh
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Ich. Max Liebermann" – gelungene Retrospektive mit Werken der Haager Schule um Anton Mauve und Jozef Israëls in Düsseldorf + Darmstadt
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Jan Toorop" – eindrucksvolle Retrospektive des niederländischen Impressionisten + Symbolisten in München + Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Van Gogh – Stillleben" – kleine, aber originelle Werkschau im Museum Barberini, Potsdam
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Piet Mondrian – Die Linie" – überzeugende Ausstellung seines figurativen Frühwerks im Martin-Gropius-Bau, Berlin.
Auch zum Thema Gärten liefert van Looy einen tollen Beitrag. Ein ganzes Feld voller blauer Blumenfülle strahlt über die Leinwand im Breitformat; ihre Blüten füllen den kompletten Vordergrund. Der Aufstieg der Niederlande zu Europas Blumen- und Gemüselieferanten hatte schon zwei Jahrhunderte vorher mit der Tulpenzucht begonnen. Als Vincent van Gogh zum Pinsel griff, waren riesige Blumenfelder ein gewöhnlicher Anblick. Aber erkannte als einer der ersten das Potential des Motivs. Anfangs wollte er genauso malen wie die Haager Schule; später ließ er ihre tonige Palette der Haager Schule hinter sich.
Piet Mondrian als Impressionist
Um 1900 beginnt eine neue, radikalere Phase des niederländischen Impressionismus. Die nun fein getüpfelte Malerweise in immer grelleren Farben wird auch als Luminismus bezeichnet. Der Belgier Jan Toorop, heute eher als rätselhafter Symbolist bekannt, zeigt hier seine strahlende Seite. Zum kreativen Zentrum wurde das Dorf Domburg, an der Küste der Provinz Zeeland. Zu den Künstlern, die dort arbeiteten, zählte die Malerin Mies Elout-Drabbe.
Und Piet Mondrian: Noch 1909 malt er in impressionistischer Manier ein „Kleines Haus in der Sonne“. Seine Windmühlen-Studien sind dann nicht mehr in wirklichkeitsgetreuen Farben gehalten. Wie seine Kollegin und Freundin Jacoba van Heemskerck will Mondrian, von der Theosophie angeregt, geistige Zusammenhänge sichtbar machen. Später wird er den Schritt in die radikale Abstraktion wagen: Was im letzten Raum des Rundgangs an expressiven Malgesten und glühenden Farben versammelt wird, ist kein Impressionismus mehr.