Paul Kuhn + Max Greger

Jazzfieber – The Story of German Jazz

Junge Jazzfans beim Swingtanzen. Foto: Arsenal Filmverleih
(Kinostart: 7.9.) Fiebrig nur in der Nachkriegszeit: Die Doku von Regisseur Reinhard Kungel feiert Bigband-Leader der TV-Unterhaltung, beweist ansonsten Mut zur Lücke und zeigt aktuellen Jazz als Ausbildungsroutine – alles blutleer als Interview-Patchwork inszeniert. Ein Begräbnis erster Klasse.

Max Greger, Paul Kuhn, Hugo Strasser, Rolf Kühn und Coco Schumann: Die ersten drei kannte in der alten Bundesrepublik jedes Kind – aus dem Fernsehen, wo sie als Leiter von sendereigenen Bigbands für die musikalische Untermalung von Quiz-Sendungen zuständig waren. Die anderen beiden Namen waren dagegen eher Jazz-Liebhabern und -Spezialisten geläufig.

 

Info

 

Jazzfieber –
The Story of German Jazz

 

Regie: Reinhard Kungel + Andreas Heinrich

90 Min., Deutschland 2023;

mit: Paul Kuhn, Hugo Strasser, Max Greger

 

Website zum Film

 

Dazu zählten vor allem Journalisten; allen voran Joachim-Ernst Berendt, der den US-Musikimport in der Bundesrepublik salonfähig machte. Oder in der DDR der Radiomann Karlheinz Drechsel, der ähnliches für die Jazzmusik in Ostdeutschland leistete. Mit Ausnahme von Berendt, der bereits 2000 starb, sind all diese Jazz-Veteranen in den letzten zehn Jahren von uns gegangen. Zuvor hatte der Filmemacher Reinhard Kungel sie interviewt und bei Konzerten gefilmt.

 

Schiefer Mix aus Einst + Jetzt

 

Das könnte eine solide Basis für eine Geschichte des Jazz im geteilten Deutschland sein; die Einteilung in historische Kapitel legt nahe, dass der Film das beabsichtigt. Erfüllen kann er es nicht. Denn Regisseur Kungel will dem historischen Rückblick auch eine Bestandsaufnahme der Gegenwart beigesellen, und das sorgt von Beginn an für qualitative Schieflagen.

Offizieller Filmtrailer


 

Spießig wie eine Butterfahrt

 

TV-Archivaufnahmen einer Reise von Max Gregers Bigband kontrastieren mit Bildern einer süddeutschen Jungmusiker-Jazzband, die noch am Beginn ihrer Laufbahn steht; das leuchtet zwar ein. Es offenbart aber auch sofort, was der übrige Film bestätigen wird: dass Jazz in Deutschland seit seinen Anfängen so spießig wie eine Butterfahrt war. Heute ist er kulturell so mausetot wie die Landschaften, die das junge Quintett im Tour-Kleinbus durchquert.

 

Außerdem tritt ein weiteres zeitgenössisches Ensemble mit historischem Repertoire auf: Hannah Weiß singt Lieder jüdischer Jazz-Komponisten aus der Weimarer Republik und dem Exil, aber auch doppelt codierte „Durchhalte-Lieder“ aus dem NS-Volksempfänger, wie den vom homosexuellen Bruno Balz gedichteten Schlager „Davon geht die Welt nicht unter“. Das macht sie gut, und der Bandname klingt fast schon nach Punk: Feindsender.

 

Jazz-Combo im Ghetto Theresienstadt

 

Doch Gespräche mit ihrem Jazz-Dozenten, die Wissen vermitteln sollen, wirken eher gestelzt. Sie begleiten auch den Abschnitt über Jazz im Dritten Reich – offiziell verboten, inoffiziell teilweise geduldet oder sogar erwünscht. So sollte im Ghetto Theresienstadt Coco Schumann mit den „Ghetto Swingers“ Jazz-Standards spielen, weil die Nazis dem Ausland suggerieren wollten, die jüdischen Insassen könnten sich kulturell frei betägigen. Andere Musiker mussten für Kurzwellensender des Deutschen Rundfunks nachts Jazz spielen, um Empfänger weltweit glauben zu machen, Jazz sei im NS-Staat erlaubt.

 

Das Interview mit dem Saxofonisten Klaus Doldinger zum Thema wäre dagegen besser herausgeschnitten worden. Er und Peter Thomas haben sich eher als Komponisten von Film- und Fernsehmelodien einen Namen gemacht. Aber so wie Kuhn und Kühn, Strasser und Greger fingen sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Jazzmusiker an. Dafür mussten sie alles verlernen, was ihnen Musiklehrer beigebracht hatten, und alles aufsaugen, was US-Kollegen ihnen vermitteln konnten, wenn sich Gelegenheiten zum Zusammenspiel ergaben. Allenfalls die kurze Nachkriegszeit kann also gemeint sein mit dem „Jazzfieber“ im Filmtitel.

 

Free Jazz als Schweineschlachtung

 

Zwischen den Zeilen lässt sich das manchmal in den Gesprächen nachempfinden. Aber noch mehr spürt man die Anstrengung der Musiker, dem westdeutschen Nachkriegspublikum diese neue Musik aus Amerika, die von allerlei rassistischen Konnotationen begleitet wurde, schmackhaft zu machen. Das heißt: sie so weiß wie möglich zu waschen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Jazz an einem Sommerabend (WA)" - brillante Doku des Newport Jazz Festivals 1958 von Bert Stern + Aram Avakian mit Mahalia Jackson + Thelonius Monk

 

und hier eine Besprechung des Films "It Must Schwing! – The Blue Note Story" - originell bebilderte Doku über das wegweisende Jazz-Label von Eric Feidler

 

und hier einen Beitrag über den Film "Miles Davis – Birth of the Cool" – hervorragende Doku über die Jazz-Legende von Stanley Nelson

 

und hier einen Bericht über den Film "Born to be Blue" – eindrucksvolles Biopic über den Jazz-Trompeter Chet Baker von Robert Budreau mit Ethan Hawke

 

und hier eine Kritik des Films "Django – Ein Leben für die Musik" – Filmbiographie über den Jazz-Gitarristen Django Reinhardt von Étienne Comar.

 

In einer vielsagenden Szene aus dem SWF-Archiv sitzt ein Komitee aus Jazz-Experten über Free Jazz zu Gericht. Der schon damals intellektuell überforderte Klaus Doldinger erklärt, dass diese Geräuscherzeugung nicht schwer sei und für ihn nach Schweineschlachtung klänge. Damit ist auch für den Film die freie Improvisation erledigt; zuvor hatte er dem DDR-Jazz immerhin zehn Minuten eingeräumt.

 

Top-Hit Aktuelles Sportstudio

 

Flugs geht es weiter im bunten Programm. Für Regisseur Kungler erfüllte sich das Schicksal des deutschen Jazz in seinem medialen Höhepunkt, und das sind Max Gregers Titelklänge für das „Aktuelle Sportstudio“ – die am längsten und häufigsten gespielte Erkennungsmelodie der Welt. Im Fernsehen wurde Jazzmusik jedoch bald danach abgelöst durch Schlager, Disco und Stefan Raab.

 

Seitdem hat Jazz in Deutschland keine Trends oder auch nur nennenswerte Impulse gesetzt. Abgesehen vielleicht vom Revival des Swingtanzens, das im Film natürlich nicht fehlen darf. Es steht allerdings eher für die Konservierung einer 100 Jahre alten Spielart als für eine lebendige Musikpraxis. Die gibt es durchaus. Aber sie verschwindet in der zwei Generationen breiten Kluft, die diese halbgare Jazz-Geschichte zwischen Veteranen und Jung-Musikern im Tourbus lässt.

 

Auftritte wie Abschlussprüfung

 

Letztere sollen die Zukunft repräsentieren. Doch sie wirken mit beamtenhaft abgeklärten Kommentaren wie „Hier sind die Hochschulen gefordert, ein Curriculum anzubieten“ so früh vergreist, dass einem bange werden muss. Ihre Auftritte haben folglich den Charme einer Abschlussprüfung. Was aber auch an der einfallslos blutleeren Inszenierung von Regisseur Kungel liegt, die das Titel-Schlagwort völlig widerlegt. Jazz in Deutschland, wie er hier gezeigt wird, taugt seit 50 Jahren nur noch als Distinktions-Nischenmusik für Bildungsbürger. Statt Fieber herrscht letale Unterkühlung.