
Ein Mann steht in einer Wohnung und bläst in ein Alt-Saxofon. Hinter ihm ragen die rot-braunen Fassaden des New Yorker Stadtteils Greenwich Village mit ihrer typischen Gusseisen-Architektur empor. Aus dem Instrument kommen fast keine Töne – nur jenes tonlose Rauschen, das entsteht, wenn die Lippen nicht stark genug gepresst werden, um das Holzrohrblatt vibrieren zu lassen. „Mist, es geht nicht! Ich kann das einfach nicht“, sagt der Mann und legt das Instrument zur Seite.
Info
Music for Black Pigeons
Regie: Jørgen Leth + Andreas Koefoed,
92 Min., Dänemark 2022;
mit: Jakob Bro, Lee Konitz, Bill Frisell
Weitere Informationen zum Film
Ungebrochene Neugier
Nun steht er in seiner New Yorker Wohnung und kokettiert weiter: „Ich weiß nie, was passiert, wenn ich ins Saxofon blase“. Und vielleicht erklärt diese ungebrochene Neugier gegenüber seinem Instrument, warum er im hohen Alter noch von Jüngeren als Mitspieler geschätzt wird. Einer dieser Kollegen ist der dänische Gitarrist Jakob Bro. Er ist das soziale Drehkreuz im Dokumentarfilm „Music for Black Pigeons“ der Regisseure Jørgen Leth und Andreas Koefoed.
Offizieller Filmtrailer
Ein Däne in New York
Sie sind mit der Kamera dabei, wenn Bro im Verlauf des Filmes immer wieder zu Studio-Sessions für eines seiner Alben einlädt. Seine Gäste sind allesamt Größen der internationalen Jazz-Szene; darunter die Schlagzeuger Paul Motian, Jon Christensen und Joey Baron, Saxofonist Mark Turner und, als einzige Frau, die Percussionistin Midori Takada. Der neben Lee Konitz wohl bekannteste ist der Gitarrist Bill Frisell, der mit seinen Spielfertigkeiten über die Grenzen des Jazz hinaus musiziert. Auch sein erster Auftritt im Film findet vor ikonischer Kulisse statt.
Er sitzt in einem gelben New Yorker Taxi mit Blick auf Manhattans reges Straßentreiben. Auch Frisell gibt sich maximal zurückhaltend, als es um die Beziehung zu seinem Instrument geht: „Immer, wenn ich die Gitarre in die Hand nehme, fühlt es sich an, als begänne ich, sie neu zu lernen“. Hinter dieser Bescheidenheit, die auch fast alle anderen Befragten vor sich hertragen, steckt mehr als bloße Attitüde. Sie enthält eine doppelte Wahrheit.
Wer bezahlt das Taxi?
Die meisten hauptberuflichen Jazzer – und seien sie noch so berühmt – können von ihrer Musik zwar ganz gut leben, aber sie wissen, dass sie nie ein Vermögen verdienen werden. Deswegen stehen sie oft bis an ihr Lebensende auf der Bühne. Alben verkaufen sich heute kaum mehr, Streaming wirft so gut wie nichts ab, und die meisten Auftritte finden nicht mehr auf Festivals statt, sondern in kleinen Clubs, mit entsprechend geringeren Gagen. Dieser Aspekt wird im Film freilich nie thematisiert.
Er macht sich nur in einer Szene bemerkbar, als es bei einem Studiotermin in New York darum geht, wer das Taxi zur Anfahrt bezahlt. Das obliegt natürlich Jakob Bro, der die Musiker für ein neues Projekt versammelt hat. Dass der aus Dänemark eingeflogene Musiker sich das leisten kann, liegt daran, dass Kultur in seinem Heimatland sehr großzügig subventioniert wird – im Gegensatz zu den USA. Nicht Bros Platten- oder Ticket-Verkäufe, sondern die dänische Musikexport-Förderung finanziert Lee Konitz’ Taxifahrt.
Porträt einer Nische
Die Bescheidenheit hat noch ein weiteres Merkmal: Sie ist eine kreative Überlebens-Strategie. Jazzmusiker sind darauf angewiesen, zu improvisieren, um zu neuen Klängen und Tönen zu kommen, mit denen sie sich selbst und das Publikum überraschen können. Der Kontrabassist Tomas Morgan geht sogar soweit, dass er selten übt. „Eigentlich“, sagt er einmal nach einer langen Kunstpause, „übe ich nie, weil ich mir sonst irgendetwas angewöhnte, das ich dann live einfach nur abspulen würde, und das möchte ich vermeiden“.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Jazz an einem Sommerabend (WA)" – brillante Doku über das Newport Jazz Festival 1958 von Bert Stern + Aram Avakian
und hier eine Besprechung des Films "Miles Davis – Birth of the Cool" – hervorragende Doku über die Jazz-Legende von Stanley Nelson
und hier einen Beitrag über den Film "Born to be Blue" – eindrucksvolles Biopic über den legendären Jazz-Trompeter Chet Baker von Robert Budreau mit Ethan Hawke
und hier einen Bericht über den Film "The Lost Leonardo" – exzellente Doku über das teuerste Bild der Welt von Andreas Koefoed.
Denkmal für die Veteranen
Sie kommen dabei ohne unnötige Phrasendrescherei aus, und ebenso ohne Pathos. Obwohl während des Dreh-Zeitraums von 14 Jahren drei Protagonisten starben: Schlagzeuger Paul Motian 2011, sein Kollege Jon Christensen 2020 sowie im selben Jahr Lee Konitz. Mitschnitte ihrer teils letzten Konzerte machen den Film auch zu einem würdigen Erinnerungsstück über diese Veteranen. Im Gegensatz zu seinem aktuellen deutschen Pendant „Jazzfieber“ vermittelt er wirklich bleibende Eindrücke aus dem Alltag kreativer Köpfe.
Dokumentarfilme über Musik stehen ja vor einem grundsätzlichen Dilemma. Entweder sie versuchen die Musik, um die es geht, durchweg in Worte und Bilder zu übersetzen, ohne ihr wirklich nahe zu kommen. Oder sie kommen ihr zu nahe, wenn sie fast nur aus Musik bestehen – etwa in Form langer Konzert-Passagen ohne Erkenntniswert. „Music for Black Pigeons“ vermeidet beide Extreme und findet einen eigenen Rhythmus aus zahlreichen Interview-Passagen und Musik-Szenen. So verharrt der Film beredt im Dazwischen.