
Inklusion klingt immer gut. Dass bislang Benachteiligte künftig mehr Beachtung, Förderung und vor allem mehr Ressourcen erhalten – wer wollte das nicht? Sind wir nicht alle „ein einig Volk von Brüdern“, wie es im gleichnamigen Kirchenlied heißt, beschworen in zahllosen Sonntagsreden? Auch im Kunstbetrieb spielt Inklusion eine große Rolle.
Info
Welche Moderne?
In- Und Outsider der Avantgarde
06.05.2023 - 17.09.2023
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
dienstags bis 20 Uhr
im Sprengel Museum,
Kurt-Schwitters-Platz, Hannover
Katalog 38,- €
Weitere Informationen zur Ausstellung
22.10.2023 - 24.01.2024
täglich außer montags 11 bis 18 Uhr,
mittwochs 14 bis 21 Uhr
in den Kunstsammlungen am Theaterplatz, Chemnitz
Weitere Informationen zur Ausstellung
Keine Outsider, sondern Naive
Wie das funktioniert, lässt sich hervorragend an der Ausstellung „Welche Moderne?“ studieren; nach der ersten Station im Sprengel Museum Hannover ist sie in den Kunstsammlungen Chemnitz zu sehen. Ihr griffiger Untertitel „In- und Outsider der Avantgarde“ führt etwas in die Irre. Unter „Outsider Art“ versteht man gemeinhin Werke von psychisch oder anderweitig Beeinträchtigten, etwa die berühmte „Sammlung Prinzhorn“ in Heidelberg.
Die hier gezeigten Bilder von sechs Künstlern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – samt Kostproben von Weggefährten – werden normalerweise als „Naive Kunst“ bezeichnet, da ihre Schöpfer keine Ausbildung an Hochschulen oder bei anerkannten Meistern absolviert haben. Sie malen, wie es ihnen ihre Freude am Gestalten mit mehr oder weniger Talent eingibt.
Impressionen der Ausstellung
In den Kunstbetrieb integriertes Sextett
Naive Kunst ist überall; angefangen mit ersten Kritzeleien eines Schulkinds. Aufwändigere Arbeiten von Autodidakten findet man bei Trödlern, auf Flohmärkten oder in kleinen Galerien mit lokalem Publikum. In periodischen Abständen werden manche Gruppen Naiver Maler vom offiziellen Kunstbetrieb ‚entdeckt‘ – doch nur wenigen gelingt es, sich dauerhaft zu etablieren. Einfach, weil es genug professionelle Künstler gibt, die es besser können.
Eine solche Gruppe, wenn auch nur in der Außenperspektive von Freunden und Förderern, bildet auch das hier präsentierte Sextett. Diese naiven Künstler waren nämlich in der Zwischenkriegszeit keineswegs „Outsider“, weder im Sinne eines Handicaps noch in dem von Außenseitertum, sondern ganz im Gegenteil: bestens ins reguläre Kunstgeschehen integriert. Ihre Werke wurden ausgestellt und eifrig gehandelt, teils zu hohen Preisen; einige konnten von ihrer Produktion gut leben.
Bildsprache hatte enormen Einfluss
Angefangen mit Henri Rousseau, dem Übervater der Naiven Kunst. Seine Berufslaufbahn als Gerichtsvollzieher sowie im Steueramt beendete er 1893; fortan widmete er sich ganz der Malerei. Sieben Jahre zuvor waren erstmals seine Bilder im „Salon des Indépendants“ ausgestellt worden und fanden Anklang. In den Folgejahren lernte er die wichtigen Avantgardisten seiner Zeit kennen: Gauguin, Degas, Delaunay, Apollinaire, Picasso, Braque e tutti quanti. Alle schätzten ihn; Picasso gab ihm zu Ehren 1908 ein Bankett im Atelierhaus Bateau-Lavoir.
Was ihm diese Ehre verschaffte, machen schon die vier kleinformatigen Gemälde in dieser Schau deutlich. Seine überschaubaren technischen Fähigkeiten amalgamierte Rousseau zu einer einzigartigen Bildsprache. Fluchtpunkt-Perspektive kontrastiert mit Gestalten, die frontal oder im strengen Profil erscheinen. Sie stehen oder liegen gleichsam ohne Bodenhaftung im Raum. Üppige Vegetation ist kleinteilig in zahlreichen Nuancen wiedergegeben. Manche betrachten Rousseau als Vorläufer des Surrealismus, andere als einen Wegbereiter von Neuer Sachlichkeit oder Magischem Realismus – in jedem Fall war sein Einfluss enorm.
Die Maler des heiligen Herzens
Das macht die Ausstellung anhand einiger Werke von August Macke, Max Beckmann oder Picasso anschaulich; die Ähnlichkeiten in Natur- und Figurenauffassung sind nicht zu übersehen. In dieser Manier sind auch die übrigen Räume gehalten; Gemälde von naiven und arrivierten Künstlern wechseln einander ab. Die suggestive Botschaft ist klar: Sind die Arbeiten der heutzutage unterbewerteten ‚Outsider‘ nicht genauso gut und gelungen wie diejenigen der von Kunsthistorikern kanonisierten ‚Insider‘?
Diese rhetorische Frage will die Schau auch mit der Erinnerung an zwei Großereignisse beantworten. 1928 organisierte der deutsche Impresario und Kunsthändler Wilhelm Uhde, der bis 1914 und nach 1924 in Paris lebte, dort eine viel beachtete Ausstellung für „Les Peintres du coeur sacré“ („Die Maler des heiligen Herzens“). Daran erinnerte jüngst eine ebenso betitelte Gedenkschau, die Ende 2022 in Baden-Baden und anschließend in Bremen zu sehen war. Vier der dort vertretenen Maler werden auch in „Welche Moderne?“ gezeigt: André Bauchant, Camille Bombois, Séraphine Louis und Louis Vivin.
Naive Maler im MoMA
Neun Jahre später hatten sie mit etlichen Kollegen einen weiteren großen Auftritt. „Les maîtres populaires de la réalité“ („Die volkstümlichen Meister der Realität“) flankierte die Pariser Weltausstellung 1937 und sollte Frankreichs kulturellen Reichtum vorführen. Diese Leistungsschau der Autodidakten schaffte es nach Stationen in Zürich und London sogar ins New Yorker Museum of Modern Art; es schloss mit ihr seine Trilogie über Hauptströmungen der Gegenwartskunst ab.
Naive Maler im MoMA – wenn das kein Ritterschlag ist?! Diese Nobilitierung vor mehr als 80 Jahren lässt sich heute kaum wiederholen, wie die Hängung mit wünschenswerter Deutlichkeit vorführt. Etwa im Saal mit großformatigen Frauenporträts und Aktdarstellungen: Werke von Fernand Léger, Alexander Kanoldt oder Christian Schad zeichnen sich durch individuelle Formensprache und Ausdruck aus. Die Nackedeis von Camille Bombois sind undifferenzierte Fleischberge in Schweinchenrosa.
Schematische Brocken + All-over-Blumensträuße
Ähnlich verhält es sich bei Landschaften: Max Ernst verlieh 1940 dem Felsnadel-Konglomerat „Die faszinierende Zypresse“ durch Frottage eine faszinierend erratische Binnenzeichnung. Dagegen türmt André Bauchant auf Bildern wie „Der Parnass“ (1926) oder „Badende“ (1942) nur schematisch gefurchte Brocken-Ungetüme auf, in denen kleine Staffage-Figuren wie Ameisen herumwimmeln.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Picasso in der Kunst der Gegenwart" – hervorragende Themenschau in den Deichtorhallen, Hamburg
und hier eine Besprechung der Ausstellung "130% Sprengel. Sammlung Pur" – Neupräsentation der Klassischen Moderne im Sprengel Museum Hannover mit Werken von Christian Schad
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Dix/Beckmann: Mythos Welt" mit Werken von Otto Dix + Max Beckmann in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Helmut Kolle: Ein Deutscher in Paris" über das malerische Werk des Partners und Protegés von Wilhelm Uhde in Chemnitz + Hamburg
und hier eine Kritik des Films "Big Eyes" über ein Hobbymaler-Paar, das in den 1950/60ern mit naiver Kunst weltweiten Erfolg hatte, von Tim Burton mit Amy Adams + Christoph Waltz.
Bibel-Wimmelbilder von Trillhaase
Man könnte einwenden, das läge an den Exponaten. Die meisten sind Leihgaben der Sammlung Zander, der mit mehr als 4000 Arbeiten größten Kollektion von Naiver Malerei und Verwandtem in Deutschland. Ab 1996 war sie im Schloss von Bönnigheim bei Ludwigsburg nahe Stuttgart zu sehen; 2020 wurde das Museum geschlossen, um den Bestand auf Wechselausstellungen zu zeigen. Wie der Heilige-Herzen-Gedenkschau in Baden-Baden und Bremen – deren Werkauswahl war entschieden hochwertiger als bei „Welche Moderne?“
Doch das ist nicht der Grund, wie der Raum für Adalbert Trillhaase beweist. Der vermögende Rentier und Mäzen zählte zum Umkreis des Künstlerbunds „Junges Rheinland“ in Düsseldorf; er begann erst mit etwa 60 Jahren, selbst zu malen. Hier gezeigte Bilder steuert das Clemens-Sels-Museum in Neuss bei: vor allem Wimmelbilder biblischer Szenen mit anatomisch vereinfachten Strichmännchen. Ihre Ausdrucksarmut legt nebenan ein Gruppenporträt der Familie Trillhaase bloß, das Otto Dix 1923 anfertigte: Er imitierte dessen Gliederpuppen-Gestalten mit starren Gesichtern, gab ihnen aber mit stieren Augen und groben Pranken einen geradezu diabolischen Ausdruck.
Die Bilder sprechen für sich
Da mag der von Manja Wilkens, einer ausgewiesenen Expertin, sorgfältig edierte und vorzügliche Katalog noch so oft nahelegen, die Werke der Naiven kämen kompositorisch an das Œuvre von Klassikern der Moderne heran: Die Bilder sprechen für sich. Was sie sagen, spricht nicht für die Dilettanten – die Profis sind in jeder Hinsicht schlicht besser. Was man auf den ersten Blick sieht; diesen Direktvergleich so schonungslos zu ermöglichen, ist das Verdienst dieser Ausstellung.