
Die Große Vereinheitlichte Feldtheorie ist der Stein der Weisen der modernen Physik. Diese „Theorie von Allem“ soll sämtliche physikalischen Grundkräfte vereinigen und dabei auch Einsteins Relativitätstheorie mit den Gesetzen der Quantenmechanik versöhnen. Sie ist Mittelpunkt, Motor und blinder Fleck im Film von Timm Kröger. Darin mixt der Regisseur auf fantasievolle Weise Heimatfilm und Mystery-Thriller, Science-Fiction und Nachkriegs-Krimi. Der eigentlichen Handlung geht als Prolog eine 1970er-Jahre-TV-Talkshow voran.
Info
Die Theorie von Allem
Regie: Timm Kröger,
118 Min., Deutschland/ Österreich/ Schweiz 2023;
mit: Jan Bülow, Olivia Ross, Hanns Zischler
Von Rotstich-Schmal- zu SW-Breitbild
Danach springt der Film zurück ins Jahr 1962. Aus dem schmalen Fernseh- wird ein breites Leinwand-Format, aus rotstichigen Farben das Schwarzweiß der Nachkriegszeit. Mit der Bahn fährt der junge Physik-Doktorand Johannes gemeinsam mit seinem Doktorvater Julius Strathen (Hanns Zischler) in die Schweizer Alpen, um an einem internationalen Physiker-Kongress teilzunehmen. Im Zug begegnen sie zu Strathens deutlichem Missvergnügen dessen Kollegen Professor Henry Blumberg (Gottfried Breitfuß).
Offizieller Filmtrailer
Warten auf den Konferenz-Stargast
Im Hotel treffen sie weitere sonderbare Charaktere. Doch der Stargast der Konferenz fehlt: Ein iranischer Physiker, der über die Vereinheitlichte Feldtheorie dozieren sollte, kann wegen Visaproblemen nicht anreisen. Während sich die Gäste mit Ski-Touren und alkoholgetränkten Tanzabenden die Zeit vertreiben, gerät Johannes in den Bann der mysteriösen Pianistin Karin (Olivia Ross). Sie scheint Dinge über ihn zu wissen, die er selbst nicht weiß – oder die sie unmöglich wissen kann.
Als eine seltsame Wolkenformation am Himmel erscheint, häufen sich die Merkwürdigkeiten. Prof. Blumberg erlebt im Fahrstuhl eine Art Zusammenbruch und reist überstürzt ab. Kurze Zeit später wird seine Leiche gefunden. Er wurde offenbar ermordet, was zwei Polizisten auf den Plan ruft, die sich nun einen Reim auf diesen und folgende Todesfälle machen sollen. Als Ermittler, der stoisch im Dunkeln tappt, bereichert von nun an David Bennent den Film.
Zwischen James Bond + Zauberberg
Dieses Vexierspiel, in dem Doppel- und Wiedergänger auftauchen und wieder verschwinden, inszeniert Regisseur Kröger als amüsante Achterbahnfahrt durch die Filmgeschichte. Expressionistische Schattenspiele wechseln ab mit mondänen Szenen zwischen James-Bond-Film und entrückter Atmosphäre wie im „Zauberberg“ von Thomas Mann. Wenn die Polizisten durch den Wald stapfen, erinnern sie an zahllose Fernsehkommissare. Wenn sich Gewitterwolken zusammenbrauen und Blitze einschlagen, geht es zu wie im Bergfilm.
Passenderweise hängt für Johannes der Himmel voller Geigen, sobald er Karin näher kommt. Dagegen spuckt der Score atonale Drohgebärden aus, als er zum Ursprung der Anomalien vordringt. Diesen spielerischen, aber stilsicheren Tonfall behält der Film bis zum Finale bei. Leider opfert Regisseur Kröger diesem Spektakel den theoretischen Tiefgang: Die Wissenschaft im Film bleibt so vage, dass sie alles oder nichts erklären kann.
Super-Strahlung in Ex-Uran-Mine
Warum hat Prof. Blumberg vor seiner Abreise einen schlechten Trip? Welche Logik steht hinter der Mordserie, und warum weisen alle Opfer schreckliche Kopfwunden auf, als sei ihnen das Gehirn geplatzt? Wo kommen die Männer mit den Schlapphüten her? Warum haben sie es auf Johannes’ Doktorarbeit abgesehen? Und welche Rolle spielen zahlreiche Verweise auf die NS-Vergangenheit?
Hintergrund
Lesen Sie hier ein Interview mit Regisseur Timm Kröger über "Die Theorie von Allem"
und hier eine Rezension des Films "Dunkel, fast Nacht" – vielschichtiger Mystery-Thriller über NS-Hinterlassenschaften in Polen von Borys Lankosz
und hier eine Besprechung des Films "Die Entdeckung der Unendlichkeit" – stimmiges Biopic über das Physik-Genie Stephen Hawking von James Marsh
und hier einen Beitrag über den Film "Schilf – Alles, was denkbar ist, existiert" – theoriesatter Quantenmechanik-Psychothriller von Claudia Lehmann nach Roman von Juli Zeh.
In anderem Raum-Zeit-Kontinuum leben
Ob neue Technologie, gesellschaftliche Projektion oder kosmisches Phänomen: In der traditionellen Science-Fiction bildet spekulative Wissenschaft meist die Voraussetzung der Handlung und wird deswegen stets erklärt. In „Die Theorie von allem“ verschiebt Regisseur Kröger die Erklärung für alles ans Ende der Suche – ohne eindeutige Antworten zu geben. Stattdessen legt der Film nahe, dass Johannes das Geschehen wie Schrödingers Katze überlebt hat – und zugleich auch nicht. Wobei er ebenso wenig Genaues weiß wie der Zuschauer.
Ob Johannes Zugang zu einer Parallelwelt hatte, dort Zeuge eines Kampfes verfeindeter Wissenschaftler-Lager wurde, mit seiner nie fertig werdenden Doktorarbeit sogar unwissentlich Akteur in diesem Konflikt war: All das bleibt offen. Im Epilog wird Johannes’ weiteres, ziemlich jämmerliches Leben im Konjunktiv nachgezeichnet. Mit einer letzten Pointe: Sein Leben hätte sich in einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum abgespielt als dem unseren. Das ist eine vergnügliche Volte dieses hervorragend gefilmten Puzzlespiels – aber sie bleibt gleichfalls ohne Erklärung.