Martin Scorsese

Killers of the Flower Moon

Reich und potentielle Mordopfer: Die Schwestern Rita (JaNae Collins), Mollie Kyle (Lily Gladstone) , Anna (Cara Jade Myers) und Minnie (Jillian Dion, v.l.n.r.) gehören derselben Osage-Familie an. Foto: Apple TV+
(Kinostart: 19.10.) Der Feind in meinem Bett: Um 1920 heirateten durch Öl reich gewordene Indianerinnen weiße Männer – die sie dann umbrachten. Die Osage-Mordserie schildert Regisseur Martin Scorsese als perfekt inszeniertes Gewalt-Epos, in dem DiCaprio und De Niro erstmals seit 30 Jahren gemeinsam auftreten.

Solch eine Geschichte hat Martin Scorsese in seinen Filmen schon häufig erzählt. Es ist die Gewaltgeschichte der Vereinigten Staaten: wie Habgier, Betrug, Heimtücke, Verrat, Brutalität und schiere Mordlust ihren Aufstieg zur mächtigsten Nation der Erde begleitet haben. Sei es in seinen Mafia-Filmen wie „Hexenkessel“ (1973), „GoodFellas“ (1990) und „Casino“ (1995), sei es in „Gangs of New York“ über Bandenkriege im 19. Jahrhundert oder „The Wolf of Wall Street“ (2013) über einen Börsenbetrüger – um voranzukommen, schrecken alle Akteure vor nichts zurück.

 

Info

 

Killers of the Flower Moon

 

Regie: Martin Scorsese,

206 Min., USA 2023;

mit: Leonardo di Caprio, Robert de Niro, Lily Gladstone, Jesse Plemons

 

Weitere Informationen zum Film

 

Nun variiert Scorsese das Thema mit einer neuen Geschichte. Diese historische Episode mag US-Amerikanern geläufig sein, weshalb der Film die Ausgangslage wenig erläutert, doch hierzulande ist sie kaum bekannt – daher sei sie kurz skizziert. Unter dem Druck weißer Siedler verkauften die Osage-Indianer ihr Siedlungsgebiet in Kansas und zogen ins südlich gelegene Oklahoma. Mit dem Verkaufserlös erwarben sie 1870 ein Territorium an der Grenze zu Kansas, das heutige Osage County. Dort entdeckte man 1897 erstmals Erdöl.

 

Privates Land, kollektive Schürfrechte

 

Um die Aufnahme von Oklahoma als Bundesstaat in die USA vorzubereiten, wurde das Gebiet 1907 unter allen Osage-Familien aufgeteilt. Jede erhielt mehr als 200 Hektar Land, weit mehr als sonst üblich. Die Schürfrechte an Bodenschätzen verblieb kollektiv beim Stamm und wurden für ihn vom „Bureau of Indian Affairs“ der US-Regierung verwaltet. Die „Osage Mineral Estate“ zahlte jedem Mitglied Lizenzgebühren aus, abhängig von seinen Ländereien – die vererbt werden konnten.

Offizieller Filmtrailer


 

Weiße Vormünder für abhängige Osage

 

Bis 1920 stieg die Ölförderung enorm; sie machte die Osage zum damals reichsten Volk der Welt. Allein 1923 nahm der Stamm 30 Millionen US-Dollar an Gebühren ein, was heute etwa 400 Millionen Dollar entspricht. Zwei Jahre später wurde an jedes Mitglied 13.000 US-Dollar ausgeschüttet; die derzeitige Kaufkraft dieser Summe beträgt mehr als das Zwölffache. Dieser Geldsegen lockte zahllose Glücksritter und Profiteure ins Osage County.

 

Um die Indianer vor Übervorteilung zu schützen, legte ein Bundesgesetz von 1921 fest, dass Gerichte für jeden Osage einen weißen Vormund ernennen mussten. Er sollte dessen Finanzen verwalten, bis dieser seine „Mündigkeit“ unter Beweis stellte. Die wohlmeinende Absicht verkehrte sich ins Gegenteil: Etliche weiße Vormünder, meist Rechtsanwälte oder Geschäftsleute, nahmen ihre Mündel nach Strich und Faden aus. Skrupellos kassierten sie Landrechte oder Gebühren ein und betrogen die Osage um Millionen. Diese waren dagegen macht- und wehrlos.

 

Taxifahrer bezirzt Indianerin

 

Dergestalt ist die Lage zu Beginn des Films. Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) kehrt aus dem Ersten Weltkrieg zurück, in dem er sich eine chronische Bauchverletzung zugezogen hat. Mit ihm im Zug nach Pawhuska, dem Hauptort von Osage County, sitzen scharenweise schäbige Gestalten, die sich dort als Ölarbeiter verdingen oder sonstwie zu Geld kommen wollen. Man glaubt sofort, dass dieses Lumpenpack auch vor Auftragsmorden nicht zurückschreckt.

 

Burkhart besucht seinen Onkel, den bestens vernetzten Viehzüchter William Hale (Robert De Niro). Der legt ihm nahe, in Pawhuska als Taxifahrer anzufangen und der Osage-Indianerin Mollie Kyle (Lily Gladstone) schöne Augen zu machen. Mit Erfolg: Obwohl sie rasch bemerkt, dass er nicht der Klügste ist, erliegt sie bald seinem Werben und heiratet ihn. Was ihr ebenso wenig bekommen wird wie ihren Angehörigen.

 

Schwägerin samt Ehemann weggebombt

 

Erst muss ihre trinkfreudige Schwester Anna dran glauben, dann ihre Mutter Lizzie Q. Ihre Schwester Rita wird samt ihrem Ehemann Bill Smith durch eine massive Explosion beseitigt, die ihr Haus in Schutt und Asche legt. Auch ihr Cousin Henry Roan stirbt eines gewaltsamen Todes. Drahtzieher hinter all diesen Anschlägen ist William Hale: Jedes Opfer vererbt seine Rechte den verbliebenen Verwandten – am Ende werden sie alle in seiner Hand landen.

 

Ernest spielt dieses blutige Spiel ebenso mit wie sein Bruder Bryan. Erst als sein Onkel ihm eine Verzichtserklärung für den Fall seines Ablebens abverlangt, sagt er sich innerlich los – zumal der FBI-Ermittler Tom White (Jesse Plemons) der korrupten örtlichen Polizei die Fahndung aus der Hand nimmt und sie energisch vorantreibt. So wahnwitzig diese über Jahre sich hinziehende Mordserie erscheint: Das Drehbuch hält sich weitgehend an die historisch verbürgten Fakten.

 

Weiße Gatten leben wie Drohnen

 

Auf ihrer Basis baut Regisseur Scorsese, wie häufig in seinen Filmen, einen psychologischen Mikrokosmos auf: als vielfach verästeltes Beziehungsgeflecht von Personen, die alle in Zuneigung und Angst aneinander gefesselt sind. Ihr Wechselbad der Gefühle leuchtet der Film in allen Schattierungen meisterlich aus. Vor einer Kulisse, die bizarrer kaum sein könnte: Pawhuska erscheint wie ein Western-Städtchen voller Luxus-Boutiquen, die „Osage-Preise“ verlangen. Auf der Hauptstraße werden Wagenrennen ausgetragen; die Autos, auf die man wetten kann, sehen wie Seifenkisten aus.

 

Dort gehen die Osage in Ballkleidern und mit Glacé-Handschuhen shoppen; das nötige Kleingeld müssen sie zuvor von ihren Vormündern erbitten. Einfacher haben es die weißen Gatten der Osage-Indianerinnen, die von ihnen wie Drohnen ausgehalten werden. Dennoch müssen die reichen Gemahlinnen befürchten, dass mann ihnen trotz ihrer Freigebigkeit nach dem Leben trachtet.

 

Parallelen zu heutigen Zuständen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension von "Pretend It's a City" – siebenteilige TV-Doku-Serie über New York von Martin Scorsese

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Martin Scorsese"weltweit erste Retrospektive des US-Regisseurs im Museum für Film und Fernsehen, Berlin

 

und hier einen Beitrag über den Film "The Revenant – Der Rückkehrer" – grandioser Rache-Western  von Alejandro González Iñárritu mit Leonardo DiCaprio

 

und hier einen Artikel über den Film "Silence" - intensives Historiendrama über Missionare in Japan von Martin Scorsese

 

und hier einen Bericht über den Films "The Wolf of Wall Street" – brillant ätzende Börsianer-Groteske  von Martin Scorsese mit Leonardo DiCaprio.

 

Dieses so komplexe wie abseitig wirkende Milieu setzt Scorsese mit gewohnter Virtuosität in Szene. Dabei glänzen seine Lieblingsschauspieler wie schon lange nicht mehr. DiCaprio tritt als Kriegsheimkehrer so verkniffen und verschlossen auf, dass nahezu rätselhaft bleibt, was Mollie an ihm findet. Ebenso, wie der träge Taugenichts endlich die Kraft aufbringt, sich von seinem kriminellen Onkel zu emanzipieren; den gibt De Niro mit so verführerisch jovialem Charme des Bösen wie seit „GoodFellas“ nicht mehr. Damit ergänzen sie einander bei ihrem ersten gemeinsamen Film seit 30 Jahren perfekt.

 

Doch der Film ist mehr als ein brillant umgesetztes Genrestück vom bedeutendsten Kino-Chronisten der US-Zivilisation. Parallelen zu heutigen Zuständen in vielen Teilen der Welt drängen sich auf – was ein Grund sein mag, warum Scorsese die historische Verankerung des Geschehens nicht sonderlich ausarbeitet. Im Grunde geht es überall dort ähnlich zu, wo Einheimische lokale Ressourcen mangels technischer und sozialer Infrastruktur nicht selbst nutzen können.

 

Ekstatischer Tanz um Ölquelle

 

Das übernehmen dann Invasoren, meist ehemalige Kolonialherren und/oder finanzstarke Investoren. Sie mögen nicht mehr so rücksichtslos ausbeuten wie einst, sondern den Eigentümern einen erheblichen Anteil überlassen – dennoch bleiben letztere vom Know-how der Fremden abhängig. Häufig auch von ihrem militärischen Schutz; wie viele Drittwelt-Eliten, die von ihnen beherrschte Habenichtse fürchten müssen.

 

Für diese Ambivalenz von (Öl-)Reichtum findet der Regisseur am Anfang ein einprägsames Bild. Nach ausgeblichenen Aufnahmen vom früheren Elend schießt plötzlich ein dicker Strahl aus dem Boden hervor, und ein halbes Dutzend Osage tanzt halbnackt um die Quelle. In Zeitlupe sind ihre ekstatischen Gesichter zu sehen, vom schwarzen Gold besprenkelt. Zeigen ihre Minen den Ausdruck höchster Verzückung oder schmerzvollen Leids? Diese Frage beantwortet Scorsese erschöpfend in dreieinhalb Stunden – und keiner Sekunde zuviel.