„Herwarth“ heißt das Sturmtief, das alles zum Stillstand bringt. Am Münchner Hauptbahnhof herrscht Chaos, alle Züge fallen aus. Auch der Flughafen ist längst gesperrt. Es gilt Warnstufe rot. Ob Wind, Schnee oder Streik, jeder kennt die Situation: Wenn die Natur oder die Gewerkschaft zuschlagen, ist man als Reisender hilflos. Rien ne va plus, nichts geht mehr, die Bahn liegt lahm.
Info
791 km
Regie: Tobi Baumann,
103 Min., Deutschland 2023;
mit: Iris Berben, Joachim Król, Nilam Farooq
Weitere Informationen zum Film
Eine unfreiwillige Reisegemeinschaft
Draußen vor dem Bahnhof steht ein einsames Taxi. Das Licht auf dem Dach ist noch an, also nichts wie rein, denkt sich Tiana. Nur ist die junge Startup-Unternehmerin damit nicht allein. Die pensionierte Soziologin Marianne (Iris Berben) will ebenfalls noch heute in die Hansestadt. Auch Susi (Lena Urzendowsky) sitzt bereits auf der Rückbank, als Philipp sich trotzig zu den drei Frauen gesellt.
Offizieller Filmtrailer
Ein paar Regeln zu Beginn
Taxifahrer Joseph (Joachim Król) versucht erst gar nicht, Widerstand zu leisten. Eigentlich wollte er gerade Feierabend machen, doch daraus wird jetzt nichts mehr. Die zusammengewürfelte Reisegemeinschaft bleibt hartnäckig, und die Gutscheine, welche die Bahn für den Zugausfall ausgestellt hat, geben immerhin ein stattliches Fahrgeld her.
Was Joseph nicht bedacht hat: 791 Kilometer können ganz schön lang werden. Denn mit ihm zusammen stellt das zugestiegene Quartett eine ziemlich explosive Mischung dar. Schließlich soll der Film auf engstem Raum als Komödie funktionieren. Schlimmes ahnend, stellt Joseph gleich zu Beginn ein paar Regeln klar: „Es wird nicht gesungen, nicht gebetet, und niemand tritt gegen den Sitz“.
Kein Thema wird ausgelassen
Aber all das ficht die Fahrgäste nicht an. Kaum ist der Wagen auf der Autobahn, geht das Gezeter los. Tempolimit, Klimaschutz, sexuelle Nötigung und Cancel Culture – auf engstem Raum wird kein Thema ausgelassen auf dieser Fahrt nachts durch ganz Deutschland von Süd nach Nord. Marianne versucht es am Anfang noch mit Diplomatie und Lässigkeit. Doch sie wird sofort von Tiana ausgebremst, die dabei auf ihrem Laptop verzweifelt Excel-Tabellen studiert.
Nur Susi schweigt sich lange aus. „Vorbildlich“ nennt Joseph das, aber tatsächlich ist die junge Frau im dicken Kapuzenpulli schwer traumatisiert. In einem ruhigen Moment kommt sie dazu, ihre Geschichte zu erzählen, und berichtet von ihren Erfahrungen mit häuslicher Gewalt. Philipp versucht indessen, seine Beziehung zu retten, weil er gerade in einem Nebensatz erfahren hat, dass er vielleicht Vater wird.
Nur die Handbremse hilft
Hintergrund
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und hier einen Beitrag über den Film "Alles in bester Ordnung" – unmögliche Liebesgeschichte zwischen älterer Schauspielerin und jungem Dieb von Natja Brunckhorst mit Joachim Król.
Iris Berben dagegen hat mit Sätzen zu kämpfen, die vermutlich bisher noch nie in einem Taxi gefallen sind: „Ungeduld ist ein Hemd aus Brennnesseln“, sagt Marianne einmal zu Joseph – als Zuschauer ist man davon ähnlich irritiert wie er. Als die Stimmung mit zunehmender Kilometerzahl gänzlich zu kippen droht, kann aber auch sie mit ihren klugen Sprüchen nichts mehr ausrichten. Da hilft nur noch die Handbremse, bis der Wagen mitten auf der Straße zum Stillstand kommt.
Es weihnachtet sehr
Es geht mal wieder um den ganz normalen Wahnsinn, mit viel Text, ebenso viel Streit und allerhand Geschrei. Dass man trotzdem weiter zuhört, ist einem Drehbuch zu verdanken, das sich in der zweiten Filmhälfte weg vom gesellschaftspolitischen Dampfablassen hin zum Privaten bewegt. Dabei wird es auch einmal ernst, und die Wut flaut ab. Es bleiben eine Menge persönlicher Probleme, Ängste und Sorgen.
Immer wenn Regisseur Baumann in „791 km“ auf Menschlichkeit setzt, hat er seine Figuren am besten im Griff. In manchen Momenten wird dann der gewollte Humor durchaus unterhaltsam. Passend zur Weihnachtszeit appelliert der Film am Ende an Nächstenliebe, Gemeinschaftssinn und Hilfsbereitschaft; das wirkt jedoch allzu erzwungen und konstruiert.