Um es gleich vorweg zu nehmen: „Maestro“ ist kein Film über den Werdegang des weltberühmten Dirigenten und Komponisten Leonard Bernstein (1918-1990), dessen Musical-Evergreen „West Side Story“ vor zwei Jahren von Steven Spielberg hinreißend neu verfilmt worden ist. Denn Kino kann vieles visualisieren, aber kaum die Klangfülle eines großen Orchesterwerks und die Finessen einer maßgeblichen Interpretation. Deshalb gibt es kaum Spielfilme über berühmte Dirigenten und Komponisten.
Info
Maestro
Regie: Bradley Cooper,
131 Min., USA 2023;
mit: Bradley Copper, Carey Mulligan, Matt Bomer
Weitere Informationen zum Film
Verräterischer Vorhang-Aufzug
Das deutet sich schon in der zweiten Szene dezent an: In einem New Yorker Loft wird das große Panorama-Fenster von einem Vorhang verhüllt. Das Telefon klingelt; Bernstein nimmt verschlafen den Anruf an, der sein Leben ändern wird. Dirigent Bruno Walter sei erkrankt – ob er kurzfristig einspringen könne? Er sagt sofort zu, legt auf, springt nackt aus dem Bett und reißt jubelnd den Vorhang auf; gleißendes Licht überflutet die Laken, in denen ein weiterer Mann liegt.
Offizieller Filmtrailer
Nur ein paar Takte „West Side Story“
Am Abend dirigiert Bernstein am 14. November 1943 die New Yorker Philharmoniker in der Carnegie Hall – ohne mit ihnen die Werke von Schumann und Richard Strauss auch nur einmal geprobt zu haben. Das Konzert wird landesweit im Radio übertragen; danach ist Bernstein ein neuer Klassik-Star. Für seinen Durchbruch genügt dem Film eine Handvoll Einstellungen, insgesamt keine Minute lang. Auch andere Sternstunden seiner Laufbahn werden allenfalls angetippt, von der „West Side Story“ gar nur ein paar Takte auf der Tonspur eingespielt.
Ein einziges Konzert findet ausführliche Berücksichtigung: die Aufführung von Mahlers 2. Symphonie 1973 in der Kathedrale der englischen Kleinstadt Ely. Einerseits wohl wegen Bernsteins Vorliebe für Mahler, andererseits wegen der streng gotischen Architektur, die trefflich mit seinem Gebaren kontrastiert. Minutenlang zittert, fuchtelt und rast er wie ein Berserker, als wolle er die pathetische Wucht der Musik in jeder Sekunde ekstatisch ausagieren.
Exzentrisch im Klangrausch austoben
So veranschaulicht Bradley Cooper als Regisseur und Hauptfigur, worauf Bernsteins Popularität zum Teil beruhte: In der steifen, förmlichen Klassik-Welt bot er sich als Identifikationsfigur für überschwängliche Gefühle der Zuhörer an. Da wagte einer stellvertretend für alle, sich im Klangrausch auszutoben – exzentrischer als jeder Disco-Tänzer.
Einen anderen Grund für seine Beliebtheit deutet der Film elegant beiläufig an, indem er ihn nur kurz erwähnt. Von 1954 bis 1972 trat Bernstein regelmäßig im Fernsehen auf, erklärte musikalische Grundbegriffe und stellte Komponisten mit ihren Werken vor. Ein Klassik-Profi mit festem TV-Sendeplatz und Millionenpublikum; dafür war er mit seinem Charme, Humor und leutseligen Auftreten genau der Richtige.
Gefallsüchtiger everybody’s darling
Mit denselben Eigenschaften versucht er unentwegt, sein Umfeld zu bezirzen. So summarisch der Film vieles andere abhandelt – hierfür nimmt er sich Zeit und schaut genau hin. Cooper tritt als Bernstein mit jovialem overacting jedem gegenüber stets eine Spur zu liebenswürdig und gut gelaunt auf; da erscheint es nur folgerichtig, dass dieser gefallsüchtige everybody’s darling trotz aller Erfolge schließlich über depressive Anwandlungen klagt.
Damit kommt seine Gattin Felicia durchaus zurecht. Carey Mulligan spielt sie brillant als ebenbürtige Powerfrau, die nicht nur ihre eigene Karriere als Schauspielerin, den Haushalt und die Sorge um die drei gemeinsamen Kinder unter einen Hut bekommt, sondern auch ihrem Mann stets auf Augenhöhe begegnet. Ob verliebtes Geplänkel vor ihrer Heirat 1951 oder einfühlsame Beratung, wenn der Hyperaktive unter Schaffenskrisen leidet – Felicia ist jeder Situation gewachsen. Ihr ultrasubtiles Minenspiel ist das Kraftzentrum des Films.
Krebs-Agonie der Kettenraucher
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "West Side Story" – mitreißende Neuverfilmung des Musical-Welthits von Leonard Bernstein durch Steven Spielberg
und hier eine Besprechung des Films "Tar" – fesselndes Psychogramm einer Star-Dirigentin mit Cate Blanchett von Todd Field
und hier einen Beitrag über den Film "Ennio Morricone – Der Maestro" – informative und komplexe Doku über den berühmten Filmkomponisten von Guiseppe Tornatore
und hier einen Bericht über den Film "Halt auf freier Strecke" über den Todeskampf eines Krebs-Kranken von Andreas Dresen.
Felicias Agonie beobachtet Regisseur Cooper genauso aufmerksam wie zuvor den honeymoon des Paars und seine Endlos-Tournee durch Konzertsäle und Cocktail-Empfänge: So naturalistisch dürften die Symptome von unheilbarem Krebs seit „Halt auf freier Strecke“ (2011) von Andreas Dresen nicht mehr auf der Leinwand zu sehen gewesen sein. Ebenso sein Auslöser: Als notorischer Kettenraucher quarzt Bernstein ununterbrochen, selbst beim Klavierspiel oder in Proben; Felicia nicht viel weniger. Seinen Krebstod zwölf Jahre nach ihrem bleibt aber dem Publikum erspart.
Unwichtige Nasenprothese
Wichtiger ist dem Film die Geometrie der Liebe: Entscheidend ist nicht, mit wem Du ins Bett gehst, sondern, wie Du danach mit ihm oder ihr und allen anderen umgehst, die Dir nahe stehen. Und völlig unwichtig ist die Größe des Gesichtserkers: Um Bernstein zu ähneln, verwendet Cooper eine Nasenprothese, was jüdische Kreise vor der Premiere als antisemitisch kritisiert hatten.