Es ist aus westlicher Perspektive schwer zu verstehen, warum sich Menschen, zumal Frauen, dem „Islamischen Staat“ (IS) anschließen. Die Gräueltaten der Terroristen haben weltweites Entsetzen ausgelöst und für schwerste Verwüstungen im Irak und Syrien gesorgt. Frauen wird im Weltbild der Radikal-Islamisten lediglich die Rolle einer Hausfrau und Mutter zugewiesen, die dem Mann in allen Belangen untertan ist und zu Willen sein muss.
Info
Olfas Töchter
Regie: Kaouther Ben Hania,
110 Min., Tunesien/ Frankreich/ Deutschland/ Saudi-Arabien 2023;
mit: Eya Chikhaoui, Tayssir Chikhaoui, Zine El-Abidine Ben Ali
Weitere Informationen zum Film
Schauspielerinnen springen ein
Die Regisseurin engagierte zwei Schauspielerinnen, welche die Rollen der Töchter von Olfa übernahmen: Ghofrane und Rhama. 2016 schlossen sich die beiden Teenager nach einer Phase der Radikalisierung dem IS an. Die in der arabischen Welt bekannte Schauspielerin Hend Sabri springt für ihre Mutter Olfa Hamrouni ein, wenn diese von ihren Erinnerungen überwältigt wird. Dagegen werden alle männlichen Rollen von ein und demselben Schauspieler namens Majd Mastoura verkörpert.
Offizieller Filmtrailer
Re-enactment als Therapie
Was folgt, ist jedoch kein simples Nachstellen vergangener Ereignisse, wie man es aus TV-Dokus kennt. Stattdessen beginnt eine intensive Auseinandersetzung der Schauspielerinnen mit Olfa und ihren zwei jüngeren Töchtern Eya und Tayssir. So wird Olfa von ihrem Alter ego wiederholt mit sehr unbequemen Fragen konfrontiert. Das wirkt mitunter wie eine gemeinschaftliche Therapiesitzung, mit zum Teil kathartischen Effekten für die Beteiligten.
Derweil verwebt Regisseurin Ben Hania mit leichter Hand Passagen, die den Entstehungsprozess des Filmes zeigen, mit Interviews und re-enactment-Szenen, bis die Ebenen praktisch nicht mehr voneinander zu trennen sind. Die Kamera läuft einfach immer mit. Auf diese Weise entsteht eine große Intimität und Offenheit zwischen Porträtierten und Schauspielern.
Traumatische Vergangenheit
Dabei kommen alte Verletzungen und Traumata zum Vorschein. Bei Olfa und ihren Töchtern hat man das Eindruck, dass sie Grauenhaftes mitunter weglachen, um es aushalten zu können. Was an ein Spiel aus ihrer Kindheit erinnert: Wenn die Familie hungerte, stellten sich alle gemeinsam vor, ihre Lieblingsgerichte zu essen.
Armut und Not waren ständige Begleiter in Olfas Leben, die als eine von sieben Töchtern einer alleinstehenden Mutter aufwuchs. Für die Männer waren die Schwestern Freiwild, wogegen sich Olfa mit aller Macht zur Wehr setzte. Ohnehin spielten Männer in ihrem Leben stets eine sehr ambivalente Rolle. Weder Olfas Ehemann noch ihr späterer Liebhaber taugten als Autoritätsfigur oder Unterstützer – und schon gar nicht als gleichberechtigter Partner.
Gewalt über Generationen
Seit ihrer Kindheit ist Olfa dadurch geprägt, dass sie als Frau in erster Linie über ihren Körper und ihre Sexualität definiert wird. Zwischen Heiliger und Hure gibt es in der tunesischen Gesellschaft keinen Mittelweg. Dieses schizophrene Verhältnis zum Sex und zur eigenen Körperlichkeit versuchte sie auch ihren Töchtern aufzuzwingen. Jugendliche Rebellionsversuche von Ghofrane und Rhama beantwortete sie mit Gewalt und gab so weiter, was sie selbst erfahren hatte.
Die Protagonistinnen reflektieren diese endlose Kette von Gewaltakten und Missbrauch, die sich durch die Generationen zieht, und fragen sich, wie sie durchbrochen werden kann. Als Zuflucht vor solchen missbräuchlichen Beziehungen wird die Beziehung der vier Schwestern untereinander dargestellt.
Geborgenheit in der Religion
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Mann, der seine Haut verkaufte" – präzis-groteske Kunstbetriebs-Satire von Kaouther Ben Hania
und hier eine Besprechung des Films "Der Himmel wird warten" über vom "Islamischen Staat" rekrutierte Jugendliche in Frankreich von Marie-Castille Mention-Schaar
und hier einen Beitrag über den Film "Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats" - aufschlussreiche Doku über eine Dschihadisten-Familie in Syrien von Talal Derki
und hier einen Bericht über den Film "Hedis Hochzeit" – prägnantes Porträt eines jungen Tunesiers in der Post-Arabellion-Depression von Mohamed Ben Attia, prämiert mit Silbernem Bären 2016.
Die Religion bot den älteren Mädchen endlich Geborgenheit in einer Gemeinschaft und Anerkennung sowie einen Weg, ihre autoritäre Mutter gewissermaßen zu übertrumpfen. Statt gefärbter Haare und Punk-Klamotten trugen Ghofrane und Rhama nun eine Abaya (verhüllendes Ganzkörpergewand) plus Niqab (Gesichtsschleier, der nur die Augen frei lässt). Sie zwangen auch dem Rest der Familie diese neuerwachte religiöse Inbrunst auf.
Gänsehaut am Schluss
Als die Mädchen immer öfter davon sprachen, sich dem IS anschließen zu wollen, wandte sich Olfa sogar an die Polizei und forderte diese dazu auf, Ghofrane und Rhama zu verhaften – doch sie wurde nur davon gejagt. Auch ein Ortswechsel nach Libyen, wo Olfa und ihre zwei ältesten Töchter als Putzfrauen arbeiten, brachte die beiden nicht von ihrem Vorhaben ab.
Die Versprechungen des IS auf ein ehrenvolles Dasein als Ehefrauen von Kämpfern waren für sie augenscheinlich attraktiver als Gängelei und Plackerei an Mutters Seite. Wir erfahren nicht Ghofranes und Rhamas Sichtweise ihrer Geschichte – ob sie ihre Entscheidung für den IS inzwischen bereuen oder nach wie vor zu ihr stehen. Allerdings führt der Film am Schluss kurz aber eindringlich die Konsequenzen ihrer Entscheidung vor. Sie verursachen Gänsehaut.