Viggo Mortensen + Chiara Mastroianni

Eureka

Polizistin Debonna (Alaina Chlifford) auf nächtlicher Streifenfahrt. Foto: Grandfilm/Slot Machine
(Kinostart: 25.4.) Stop Making Sense: In drei vage miteinander verbundenen Episoden wandert der Film des argentinischen Regisseurs Lisandro Alonso durch Raum und Zeit. Vom klassischen B-Western über Sioux-Elend im US-Reservat bis zu Goldfieber am Amazonas – lose Handlungsfäden in betörenden Bildern.

„Eureka!“ heißt auf Altgriechisch: „Ich habe es gefunden!“. Das soll der berühmte antike Erfinder Archimedes von Syrakus ausgerufen haben, nachdem er in der Badewanne das nach ihm benannte Prinzip entdeckt hatte: Der Auftrieb eines Körpers ist so groß wie das Gewicht des von ihm verdrängten Mediums. Als Titel des Films von Lisandro Alonso könnte „Eureka“ kaum kontrafaktischer sein: Kein Zuschauer dürfte nach dem Ansehen freudig ausrufen, er habe alles verstanden.

 

Info

 

Eureka

 

Regie: Lisandro Alonso,

146 Min., Argentinien/Deutschland/Frankreich/Mexiko 2023;

mit: Viggo Mortensen, Chiara Mastroianni, Alaina Clifford

 

Weitere Informationen zum Film

 

Der argentinische Regisseur spielt nicht nur mit Paradoxien. Er setzt auch seine Filme – ähnlich seinem thailändischen Kollegen Apichatpong Weerasethakul – gern aus Episoden zusammen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, aber bei näherem Hinsehen doch sinnvoll miteinander verschränkt sind.

 

Karikatur eines Wildwest-Städtchens

 

So auch hier: „Eureka“ besteht aus drei scheinbar unverbundenen Episoden. Es geht los mit einem klassischen B-Western in Schwarzweiß und altmodischem 4:3-Bildformat. Der maulfaule Pistolero Murphy (Viggo Mortensen) kommt in die Karikatur eines Wildwest-Städtchens: Ständig sind Schusswechsel zu hören, abgerissene Cowboys taumeln betrunken herum, umgarnt von freizügigen Huren. Im Saloon macht die Respektsperson „El Coronel“ (Chiara Mastroianni) geheimnisvolle Andeutungen. Danach knallt Murphy ein paar Schießbudenfiguren ab, bis er endlich seine lange gesuchte Tochter findet – die ihre Knarre gegen den Vater richtet.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Streife durchs gewohnte Elend

 

Schnitt: All das ist nur im Fernsehen zu sehen. Die Gegenwart sieht wesentlich öder und trüber aus: In winterlichen South Dakota herrscht strenger Frost bei Schneegestöber. Die Polizeibeamtin Debonna (Alaina Clifford) stimmt sich mit ihrer indianischen (Zieh- oder Pflege-?) Tochter Sadie (Sadie Lapointe) ab, bevor sie auf nächtliche Streife durchs Reservat fährt. Sie erwartet das gewohnte Elend: lethargische, drogensüchtige Messies, bewaffneter Familienstreit, Suff am Steuer, Randale im Casino. Vielen Angehörigen der Sioux-Gruppen, die fast ein Zehntel der Bevölkerung des US-Bundesstaats ausmachen, geht es miserabel. Am Ende der Nacht antwortet Debonna ihrer Funkzentrale nicht mehr.

 

Gibt das für Sadie, deren Bruder eine Haftstrafe absitzt, den Ausschlag zum Aufbruch ins Unbekannte? Jedenfalls fährt sie zu ihrem Großvater, einem einsam hausenden Pferdezüchter. Er verabreicht ihr einen Zaubertrank, der sie in einen – mäßig animierten – Pelikan verwandelt. Mit Zwischenstopp am „Crazy Horse Memorial“ – einer riesigen Steinbüste für den Sioux-Häuptling, der 1876 in der Schlacht am Little Bighorn fünf US-Kompanien schlug – fliegt der Großvogel ins brasilianische Amazonien.

 

Suche, um den Status Quo zu überwinden

 

Dort lauscht er einer im Wald lebenden Schar von Indigenen, die sich täglich ihre Träume erzählen. Diese vom Schamanen angeleitete Gruppentherapie endet abrupt, als beim Kampf zweier Rivalen um eine Frau einer den anderen ersticht. Der Überlebende (Adanilo Costa) schließt sich einer Truppe Goldsucher an. Da er recht viel Gold findet und Neid erregt, rät ihm sein Boss zur Flucht. Nachdem ihn ein Fährmann über den Strom übergesetzt hat, was an Charons Passage über den Todesfluss Styx erinnert, sorgt der Pelikan für sein spurloses Verschwinden.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Songs My Brothers Taught Me" – sensibles Porträt von Lakota-Sioux-Geschwister von Chloé Zhao

 

und hier eine Besprechung des Films "Nomadland" über Überlebenskünstler in der US-Unterschicht von Chloé Zhao, prämiert mit drei Oscars 2021

 

und hier einen Bericht über den Film "Trenque Lauquen" – episches Episoden-Drama vom Filmemacher-Kollektiv „El Pampero Cine“, Vertreter des "Neuen Argentinischen Kinos"

 

und hier einen Beitrag über den Film "Cemetery of Splendour" – surreale Film-Allegorie zur Lage in Thailand von Apichatpong Weerasethakul.

 

Die Tochter-Suche des Western-Cowboys, die Sinn-Suche der jungen Sioux-Frau und die Glücks-Suche des Messerstechers: Was verbindet sie? Nach ihren Kindern suchende Männer hat Regisseur Alonso schon in früheren Filmen porträtiert. Die Metamorphosen der Sioux bzw. das Verschwinden des Indigenen könnten auf Legenden zurückgehen, die in den jeweiligen Kulturen geläufig, dem hiesigen Publikum aber unbekannt sind. In jedem Fall wollen die drei Protagonisten einen für sie unerträglichen Status Quo überwinden – und schrecken dabei vor Gewalt gegen andere und sich selbst nicht zurück.

 

Realität langsam + kontingent lassen

 

Was aber keine Sekunde lang erschreckt; dafür sorgt Alonsos entschleunigte Bildsprache. Sie quält nicht mit Leerlauf, dehnt aber jede Situation mit viel Vorlauf und Nachbereitung maximal aus. Da darf man schon einmal drei Minuten lang zuhören, wie eine Festgenommene quengelt, sie müsse dringend pinkeln; einem Güterzug zwei Minuten lang zusehen, wie er vorbeifährt, oder fünf Minuten lang Zeuge sein, wie Sadie stumm mit sich ringt, ob sie den Zaubertrank schlucken und ihr bisheriges Leben hinter sich lassen soll.

 

Das ist plausibel: Welcher Mensch bräuchte nicht einige Bedenkzeit, bevor er sein gewohntes Dasein aufgibt? Doch es widerspricht völlig den Konventionen geläufiger Kinoerzählungen, die Realzeit elliptisch raffen, redundante Dialoge verdichten und alles auf maximale Spannung hin zuspitzen. Regisseur Alonso, wie auch andere Vertreter des „Neuen Argentinischen Kinos“, lassen der Wirklichkeit ihre Langsamkeit und Kontingenz. Ihre Filme behaupten kein in sich geschlossenes Ganzes, sondern lassen Handlungsfäden frei in der Luft flattern – Bilder können betören und verstören, auch und gerade wenn man nicht alles versteht.