Matteo Garrone

Ich Capitano

Der junge Seydou (Seydou Sarr, re.) gemeinsam mit einer Mitreisenden auf der Reise durch die Sahara. Foto: X Verleih AG
(Kinostart: 4.4.) So weit die Füße tragen: Regisseur Matteo Garrone schildert die Odyssee zweier Teenager aus Dakar auf ihrem langen Weg nach Europa. Die Gefahren der Fluchtroute kleidet er ins Gewand eines Abenteuerfilms. So wird das Stationen-Drama zur Feier unbezwingbaren Lebenswillens.

Seydou (Seydou Sarr) und sein Cousin Moussa (Moustapha Fall) leben in Dakar, der Hauptstadt des Senegal. Weil die Teenager neben ihren Verpflichtungen für die Familie einen gemeinsamen Traum haben, stehen sie von morgens bis in die Nacht unter Strom. Nach der Schule verdingen sie sich auf Baustellen, am Abend tanzen und trommeln sie zu nachbarschaftlichen Anlässen. In den Pausen, die ihnen bleiben, zählen sie das versteckte Geld für den großen Aufbruch.

 

Info

 

Ich Capitano

 

Regie: Matteo Garrone,

121 Min., Italien/ Belgien/ Frankreich 2023;

mit: Seydou Sarr, Moustapha Fall, Issaka Sawadogo

 

Weitere Informationen zum Film

 

Denn obwohl Seydous Mutter ihn beschwört, dass er nirgendwo sonst hin gehöre als an ihre Seite, haben er und Moussa nur eins im Sinn: in Europa Musikstars zu werden. Von Weißen um Autogramme gebeten zu werden, erscheint ihnen als das größte vorstellbare Glück. Nachdem sie ihren Plan in einer animistischen Zeremonie haben absegnen lassen, machen sie sich trotz schlechten Gewissens gegenüber der Familie auf den Weg.

 

Der Traum von Europa

 

Wer sich angesichts des bisher Geschilderten nun fragt, weshalb die beiden die gefährliche Reise antreten wollen, unterschätzt die Macht des Internets. Die Jungen leiden keine Not, ihr Leben erscheint hektisch, aber harmonisch. Doch gegen die im Netz gehandelten Bilder und Träume von einem Leben im Wohlstand in Europa kommt keine noch so eindringliche Warnung an. Von den beiden möglichen Routen über die Kanarischen Inseln oder durch die Sahara und Libyen wählen sie die langwierigere Landroute.

Offizieller Filmtrailer


 

Immer neue Härten auf dem Weg

 

Sind sie während eines ersten Bustransfers noch voll naiver Zuversicht, werden die jungen Männer bald mit immer neuen Härten konfrontiert. Entlang der Strecke ihrer Odyssee fordert eine ganze Geierschar an zwielichtigen Dienstleistern immer wieder aufs Neue horrende Gebühren fürs Weiterkommen. Wer die auf ihren Verdienst lauernden, gut ausgelasteten Passfälscher, Führer und sonstigen Absahner nicht zahlen kann, bleibt auf der Strecke.

 

Einzig der Optimismus der von Laiendarstellern gespielten Jungen schützt sie auf ihrer Fahrt und dem anschließenden Fußmarsch durch die Wüste. Der ist nicht allein von im Sand liegenden Toten gesäumt. Hinzu kommen Überfälle durch Milizen und gefürchtete Internierungslager, in denen Einschüchterung und Folter zum täglichen Geschäft der Lösegelderpressung gehören.

 

Drama ohne Horrorbilder

 

Trotzdem kleidet Regisseur Matteo Garrone dankenswerterweise seinen Film nicht in düstere Horrorbilder. Der Regisseur hat sich vor allem mit dem naturalistischen Mafia-Film „Gomorrha – Reise ins Reich der Camorra“ (2008) und dem überhöhten Drama „Dogman“ (2018) einen Namen gemacht. Die Reise seiner Protagonisten inszeniert er bei allen Härten eher als farbenfrohes Abenteuer. Selbst für erste Erfahrungen mit Tod und Schuldgefühlen findet er poetische Umsetzungen. Beim Filmfestival in Venedig wurde er dafür mit einem Silbernen Löwen für die beste Regie ausgezeichnet. 

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Dogman" – düstere Mafia-Parabel in Süditalien von Matteo Garrone

 

und hier eine Besprechung des Films "Das Märchen der Märchen" – bizarre Verfilmung dreier klassischer italienischer Märchen von Matteo Garrone

 

und hier einen Bericht über den Film "Saint Omer" – Gerichtsdrama über senegalesische Mutter, die ihr Kind ermordete von Alice Diop

 

und hier einen Beitrag über den Film "Guelwaar" – beeindruckendes Konfessionsstreit-Drama aus dem Senegal von Ousmane Sembène.

 

Seine Aufnahmen der lebensfeindlichen Wüste verweisen in ihrer Großartigkeit klar auf David Leans Cinemascope-Vorbild „Lawrence von Arabien“ (1962). Allerdings kommt für Garrones Helden ständig alles noch schlimmer als erwartet. So werden Seydou und Moussa bereits früh getrennt, was ihre Überlebenschancen zusätzlich verschlechtert. Seydou – der nun über weite Teile zum alleinigen Protagonisten des Films wird – findet jedoch einen anderen Mitgefangenen, der ihn unter seine Fittiche nimmt.

 

Eine letzte Prüfung

 

In Tripolis angekommen, muss er irgendwie Geld fürs Überleben und Weiterkommen verdienen. Immerhin gibt es selbst hier funktionierende Community-Strukturen. Mit ihrer Hilfe findet Seydou heraus, ob es in der Stadt einen anderen senegalesischen Jungen namens Moussa gibt. Dann jedoch erwartet ihn eine letzte große Prüfung. Seydou muss nun eine Verantwortung übernehmen, die zu schultern eigentlich unmöglich ist.  

 

Damit kommt sie jedoch in der Filmdramaturgie für den letzten Akt des großen Abenteuers gerade richtig. So wird „Ich Capitano“ am Ende nicht in erster Linie zum politischen Manifest gegen Schleuser, Profiteure und die Abschottung Europas gegen Migration. Stattdessen setzt der Film seine Hoffnung recht klassisch in die Entschlossenheit und Standhaftigkeit seiner Charaktere. Damit wird er zur Feier eines nicht bezwingbaren Lebenswillens – was nach den Gesetzen der Serie eigentlich nach einer Fortsetzung schreit.