Alice Rohrwacher

La Chimera

Arthur (Josh O’Connor, mi.) und seine Grabräuber-Bande statten der Hehlerin Spartaco einen unangemeldeten Besuch ab. Foto: © Piffl Medien
(Kino-Start: 11.4.) Unterm Pflaster liegen die Kunstschätze: Regisseurin Alice Rohrwacher porträtiert italienische Grabräuber, die Etrusker-Grüfte aufspüren und ausplündern. Mal sozialrealistisch, mal fantastisch, bezaubert ihr Film durch den eigenwilligen Blick auf das heutige Verhältnis zur Vergangenheit.

Eyes wide shut: Als der Film beginnt, schläft sein Held tief und fest. Er sitzt im Zugabteil; draußen rauscht Italiens sonnendurchflutete Landschaft vorbei. Doch Arthur (Josh O’Connor) macht sich nichts aus gegenwärtiger Schönheit. Er ist in einem Traum versunken, der ihn in die Vergangenheit führt. Darin erscheint ihm seine große Liebe Beniamina (Yile Vianello), die seit geraumer Zeit verschwunden ist.

 

Info

 

La Chimera

 

Regie: Alice Rohrwacher,

130 Min., Italien/ Frankreich/ Schweiz 2023;

mit: Josh O'Connor, Carol Duarte, Alba Rohrwacher, Isabella Rossellini

 

Weitere Informationen zum Film

 

Kaum ist Arthur erwacht, wird er von der harten Realität eingeholt. Angekommen in seiner Wahlheimat, einem Provinznest in Umbrien, macht er sich mit gesenktem Haupt auf den Nachhauseweg. Doch so sehr er sich auch anstrengt, um nicht aufzufallen: Der hagere Brite passt so wenig in die ländliche Welt, die ihn umgibt, wie der ausgebeulte beige Anzug, den er trägt.

 

Mix aus Irdischem + Jenseitigem

 

Bereits in ihrem letzten Spielfilm „Glücklich wie Lazarro“ erzählte Rohrwacher 2018 von einem naiven Toren, der aus Zeit und Raum gefallen zu sein schien. Auch die magische Verbindung von Irdischem mit Jenseitigem ist typisch für die eigenwillige Regisseurin: Sie reichert italienischen Sozialrealismus mit Mythen und fantastischen Elementen an.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Sehnsucht nach Totenreich als Lebenselixier

 

Als studierter Archäologe spricht Arthur fast fließend Italienisch. Doch anstatt seinem Beruf nachzugehen, hat er sich in der Gegend einen Namen als tombarolo gemacht. Tombaroli nennt man Grabräuber, die nachts in verborgene Grüfte des antiken Volks der Etrusker eindringen und dort nach Kunstwerken suchen. Mittelitalien ist voller solcher unterirdischen Schatzkammern, in denen sich Vasen, Schalen, Skulpturen und andere Artefakte finden.

 

Die Beute, die Arthur und seine tölpelhafte Diebesbande beim Plündern ergattern, verkaufen sie anschließend an eine zwielichtige Kunsthändlerin mit dem Decknamen Spartaco (Alba Rohrwacher). Für den Gewinn, den dieses illegale Geschäft abwirft, interessiert sich Arthur jedoch nicht. Stattdessen scheint er wie besessen von einer unbestimmten Sehnsucht nach dem Totenreich zu sein – das hält ihn paradoxerweise am Leben. Gräber und ihre Beigaben sind seine Verbindung zur Ewigkeit.

 

Weder Liebesgeschichte noch Drama

 

Auch an der emotionalen Bindung an seine vermisste Beniamina hält Arthur hartnäckig fest. Immer wieder zieht es ihn zu ihrer Mutter Flora (Isabella Rossellini); die gealterte Aristokratin und Witwe lebt in einer verfallenen Villa. Sie kümmert sich um den schmächtigen Kerl, damit Arthur weiter nach ihrer Tochter sucht, die auf rätselhafte Weise verschollen ist.

 

Doch um Beniaminas Schicksal geht es Regisseurin Rohrwacher nicht. „La Chimera“ ist keine tragische Liebesgeschichte, auch kein Drama im herkömmlichen Sinn. Vielmehr dient Rohrwacher die episodenhafte Handlung, die in den 1980er Jahren angesiedelt ist, als Vehikel, um eine dichte, intensive Atmosphäre zu erzeugen und die Zuschauer mit den Lebensumständen der Grabräuber vertraut zu machen.

 

Mit Kamera in Gräber abtauchen

 

Dafür nutzt sie Stilmittel wie etwa altmodische Filmformate, die den Bildern eine nostalgische Note verleihen. Dann wieder treibt sie den Rhythmus der Handlung mit schwungvollen Elektrobeats voran. Manchmal taucht die Kamera zuerst in die Gräber ab, bevor es die tombaroli tun. In solchen Momenten wird dem Publikum die Kostbarkeit und die Vergänglichkeit der Schätze bewusst – wie bei zarten Wandmalereien, deren Farbe ausbleicht, sobald die Außenluft in die gewaltsam aufgebrochene Grabstätte eindringt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Glücklich wie Lazzaro" – fantastische Ausbeutungs-Parabel von Alice Rohrwacher mit Alba Rohrwacher

 

und hier eine Besprechung des Films "Das Pfauenparadies" – komplexes Porträt einer geltungssüchtigen Familie von Laura Bispuri mit Alba Rohrwacher

 

und hier einen Bericht über Ausstellung "Die Etrusker - Von Villanova bis Rom" – grandiose Überblicksschau dieser antiken Kultur in München + Aschaffenburg

 

und hier einen Beitrag über den Film "Il Buco - Ein Höhlengleichnis" – semidokumentarisches Re-enactment der Entdeckung einer Höhle in Süditalien 1961 von Michelangelo Frammartino.

 

Trotz aller kriminellen Energie und Fingerfertigkeit legen die Protagonisten auch erfrischende Unschuld an den Tag; eine kindliche Leichtigkeit, die Erwachsenen beim Altern abhanden kommt. Auch Arthur, den stets eine melancholische Last niederzudrücken scheint, hat sich die Lust am Träumen bewahrt. Dazu scheint eine neue Romanze sein Leben zu beflügeln, als er im Haus von Flora deren Angestellte Italia (Carol Duarte) kennenlernt.

 

Diebes-Ballade im Stummfilm-Tempo

 

Aber Italia hat ein Geheimnis: Sie hält ihre zwei kleinen Kinder vor Flora versteckt. Als der Schwindel auffliegt, wird sie von der alten Dame gefeuert. Anstatt zu verzagen, zieht sie in einen verlassenen Bahnhof, den sie in einen Zufluchtsort für alleinerziehende Frauen und Kinder umwandelt.

 

Solche kleinen dramatischen Zwischenspiele prägen Rohrwachers Erzählweise; ihre Geschichten sind immer idealistisch und poetisch berührend zugleich. So stimmt in der Filmmitte ein Troubadour eine Ballade über Missgeschicke armer Diebe an. Dazu wird eine Montage aus Verfolgungsjagden zwischen Polizisten und Räubern in beschleunigten Bildern gezeigt – ein amüsanter Verweis auf die Stummfilm-Epoche, deren Aufnahmen heutzutage meist viel zu schnell abgespielt werden.

 

Ein Bahnhof für alle oder keinen?

 

Ähnlich spielerisch stellt die Regisseurin den Umgang mit kulturellem Erbe infrage: „Gehört der Bahnhof allen“, fragt Italia einmal, „oder gehört er niemandem?“ Diese Frage gilt auch für die Kunstwerke, die Arthur und seine Bande aus der Unterwelt ans Tageslicht befördern. So beleuchtet „La Chimera“ das Verhältnis der heutigen Zeit zur Vergangenheit. Rohrwacher braucht dafür keine komplizierte Fabel; sie findet dafür prägnante Bilder von großer filmischer Eleganz.