Venedig

60. Biennale Venedig: Foreigners Everywhere

MAHKU (Movimento dos Artistas Huni Kuin) Kapewe Pukeni, 2024, Fassade Hauptpavillon Giardini. Foto: Elke Linda Buchholz
Expedition auf unbekannte Kunst-Kontinente: Die Biennale rückt lange ignorierte Künstler aus dem globalen Süden und den Rändern der Gesellschaft ins Rampenlicht – von Abstraktion aus dem Orient über Wimmelbilder fremder Lebenswelten bis zu Stammbäumen über 65.000 Jahre und Kriegs-Karaoke aus der Ukraine.

Zu lachen gibt es wenig auf der 60. Biennale. Die meisten Besucherinnen und Besucher schauen konzentriert, ernst und betreten drein. Krisen allerorten: Auf der ältesten aller Groß-Kunstaustellungen spiegeln sich die politischen Konflikte auf dem Globus – besonders bei den Länderpavillons in den Giardini. Sie reagieren seismografisch auf die Weltlage.

 

Info

 

 

60. Biennale Venedig:
Foreigners Everywhere

 

20.04.2024 - 24.11.2024

täglich außer montags

11 bis 19 Uhr

in den Giardini + Arsenale, Venedig

 

Weitere Informationen

 

Israels Pavillon etwa bleibt vorerst geschlossen. So lange im Gaza-Krieg Waffenstillstand und Geiselfreilassung ausbleiben, will die Künstlerin Ruth Patir ihre komplett aufgebaute Installation „Motherland“ nicht zugänglich machen – die Aufmerksamkeit der Medien ist ihr trotzdem sicher. Durchs Schaufenster sieht man antike Fruchtbarkeitsgöttinnen der Levante computeranimiert im Video marschieren. Eine der vielen Überraschungen auf dieser Biennale, die reichlich Neuland erschließt. Manche Kritiker, die bemängeln, sie sei langweilig geraten, haben wohl ihre Scheuklappen nicht abgelegt.

 

Kosmos der Düfte

 

Was ist sonst interessant? Es gibt auffallend viel zu lauschen und zu schnuppern. Kaum ein Pavillon, aus dem es nicht dudelt, singt, trommelt oder wummert. Auch der Kosmos der Düfte bereichert die Sinneseindrücke, ob im Pavillon der Niederlande (schokoladig), Österreich (floral), Südkorea (holzig) oder Japan (schimmelig, bäh!). Im deutschen Pavillon droht Stauballergikern ein Husten-Anfall; auch Klaustrophobiker sollten den albtraumartigen, gleichwohl eindrucksvollen Beitrag besser meiden – mehr später.

Impressionen der Ausstellung in den Giardini


 

Fremdfühlen als Grunderfahrung

 

Trotz neu eingeführter Gebühr für Tagestouristen ist der Andrang ungebrochen; die letzte Biennale zählte 800.000 Besucher, meist aus dem Ausland. Dazu passt blendend das Motto „Fremde überall“ des brasilianischen Museumsdirektors Adriano Pedrosa, der diese Biennale kuratiert hat: Sich fremd zu fühlen, sei die Grunderfahrung der Moderne.

 

Dieses Thema erfährt hier vielfältige Brechung: Allenthalben wird von Migrationsgeschichten, Kolonialkontexten, indigener Lebenserfahrung und genderfluiden Daseinsformen erzählt. Er selbst ist der erste Biennale-Leiter aus Lateinamerika; ebenso der erste, der offen queer auftritt. Am zweiten Ausstellungsort, den alten Werfthallen des Arsenale, spiegelt sich das Motto „Foreigners everywhere“ vielsprachig im Wasser. Damit tourt das französische Künstlerkollektiv Claire Fontaine seit Jahren durch die Welt.

 

Unter Drogen bemalte Fassade

 

Derweil hat sich die Säulenfassade des Hauptpavillons in den Giardini in einen fröhlich knallbunten Urwald mit Paradiesvögeln und Riesenfischen verwandelt. Geschmückt von der indigenen MAHKU-Gruppe aus Amazonien, die im Kollektiv und unter Einfluss traditioneller Drogen malt, so heißt es. Hinein also in den Dschungel der Kunst. Drinnen entpuppt sich Pedrosa allerdings als ein Mann der wohl geordneten Kunst-Anamnese; seine Hauptausstellung wirkt ruhig und museal.

 

Er möchte dem globalen Norden Nachhilfe erteilen: Die Namen der meisten rund 330 Künstler, die hier vertreten sind, dürften die meisten Betrachter noch nie gehört haben. Ob der globale Kunstmarkt viele von ihnen rekrutieren wird? Pedrosa hofft eher, dass seine Museumskollegen anbeißen und zu den angetippten Themen Ausstellungen ausrichten. Tatsächlich gibt es ja Nachholbedarf.

 

100 Porträts in allen Stilformen

 

Ein gelungener Coup ist gleich der erste „nucleo storico“, also „historischer Kern“, zur Abstraktion. Mit saftig leuchtenden Farben wird hier eine gegenstandslose Kunst gefeiert, die sich zwar von Europas Moderne inspirieren ließ, aber zugleich lokale Traditionen fortführte – sei es von der marokkanischen „Casablanca School“ der 1960/70er Jahre mit ihren geometrischen Farbfeldern oder der türkisch-irakisch-jordanischen Künstlerin Fahrelnissa Zeid, der Grande Dame der orientalischen Abstraktion. Viele dieser Künstler sind längst tot, manche in ihren Herkunftsländern hochberühmt. Da gibt es viel zu entdecken: Mehr als 100 Porträts aus dem Libanon, Chile, Südafrika oder Indien schillern in allen Stilformen der Moderne.

 

In die Säle mit aktueller Kunst packt Pedrosa viele queere Werke, von expliziten Nuditäten bis zu rein abstrakten Werken. Stolze Pride-Promenade oder Selbst-Ghettoisierung? Geometrisch-abstakten Kompositionen sieht man die Identität ihrer Schöpfer natürlich nicht an. Zugleich kann man in fremde Götter-, Phantasie- und Lebenswelten eintauchen und sich darin verlieren. Doch allzu viele Wimmelbilder von Indigenen, Outsidern und Autodidakten mit ihren kollektiven oder individuell versponnenen Mythen erschöpfen die Aufmerksamkeit.

 

Reiserouten im Landkartenraum

 

Ähnlich am zweiten Ausstellungsort, dem Arsenale: Hier kommen die Großformate zum Zug, auch hier auffallend viel Malerei und wenig Experimente. Irrsinnig schön und bunt: Rember Yahuarcani aus Peru setzt Himmel und Hölle mit zarten Mischwesen in Bewegung, wie einst Hieronymus Bosch. Auch Protest und Trauer gehören dazu: Eigene Diskriminierungs-Erfahrung verarbeitet der in Hongkong geborene Isaac Chong Wai mit seiner Tanztruppe. Die Tänzer stürzen wie nach einem brutalen Schlag – werden aber voneinander aufgefangen.

 

Viele Besuchende verweilen lange im Landkartenraum von Bouchra Khalili. Die in Wien lebende Künstlerin marokkanischer Herkunft ließ Flüchtlinge ihre Reiserouten mit Filzstift einzeichnen. So entstehen Arabesken aus biographischen Zu- und Wechselfällen, beeinflusst von staatlicher Willkür, Zufällen und Durchhaltekraft.