Essen

Ferne Länder, Ferne Zeiten – Sehnsuchtsfläche Plakat

Roger Broders (1883–1953): Antibes, Frankreich, um 1927, Imp. Lucien Serre, Paris, Farblithografie, 106,5 x 76,7 cm. Foto: Museum Folkwang
Europatournee für die Augen samt Abstechern nach Übersee: Das Museum Folkwang schürt Reiselust mit Urlaubsreklame von der Belle Époque bis zu Weltraum-Tourismus plus Postkarten und einem Kaiserpanorama. Ein prachtvoller Augenschmaus – sofern man die dürftige Kommentierung ignoriert.

„Einmal um die ganze Welt, und die Taschen voller Geld, (…) viele fremde Länder sehn, auf dem Mond spazieren gehen, davon hab‘ ich schon als kleiner Bub geträumt“: So besang Karel Gott, die „goldene Stimme aus Prag“, 1970 die Reiselust der Wiederaufbaugeneration. Sein Traum wurde wahr: Er durfte im Westen auftreten und Devisen verdienen – derweil mussten seine tschechoslowakischen Landsleute froh sein, wenn sie in den Sommerferien an die bulgarische Goldküste fahren konnten.

 

Info

 

Ferne Länder, Ferne Zeiten –
Sehnsuchtsfläche Plakat

 

15.03.2024 - 07.07.2024

 

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr

im Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen

 

Katalog 38 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Die Reise- ist eine Klassengesellschaft, 1984 von der britischen New-Wave-Popband „Prefab Sprout“ im Song „Elegance“ auf die Formel gebracht: „There are those who rest, and those who make the beds“ („Die einen ruhen, die anderen machen die Betten“). Diese Spaltung in the haves and have-nots ist vielen der rund 240 historischen Reklameplakate im Museum Folkwang anzusehen: Reisen muss man sich leisten können.

 

 

Alle Ziele sind Paradiese auf Erden

 

Aber verbrämt durch eine verschwenderisch prachtvolle und oft hinreißend charmante Gestaltung, die jedes Urlaubsziel als Paradies auf Erden erscheinen lässt. Wo man selbstverständlich die oberen Zehntausend antrifft: „Rendez-vous du High-Life parisien et de l’aristocratie étrangère“ („Treffpunkt der feinen Pariser Gesellschaft und der ausländischen Aristokratie“) – derart ungeniert appelliert das „Hôtel de Paris“ in Monte-Carlo 1913 an Geltungsbedürfnis und Statusdenken.

Feature zur Ausstellung mit Felicitas Hoppe; © Museum Folkwang


 

Entweder Quasi-Versailles oder Trutzburg

 

So exklusive Ferienorte gibt es immer noch, aber ihre Gäste reisen heute kaum mit der Bahn an. Vor 120 Jahren war das anders: Viele Eisenbahn-Gesellschaften warben um Fahrgäste für ihre Züge zu attraktiven Reisezielen – und druckten auf ihren Plakaten praktischerweise den Fahrplan mit ab, manchmal sogar die Billet-Preise. Diese Rundum-sorglos-Botschaft verbreiteten auch die Orte selbst. Das belgische Seebad Ostende zählt 1902 alle Freizeitvergnügen auf, denen man dort frönen konnte: hochdotierte Pferderennen und Segel-Regatten im Juli und August, Rasentennis, Wasserpolo – und Tontaubenschießen.

 

Ebenso natürlich die Hotels: Gehobene Häuser überbieten sich mit der Auflistung des Komforts, den sie bieten. Als Plakatmotiv kommen sie durchweg majestätisch daher. Entweder als Quasi-Versailles, das eines Sonnenkönigs würdig wäre, samt ausgedehntem Lustgarten voller tropischer Gewächse – so präsentiert sich das „Excelsior Hôtel Regina“ in Nizza. Oder als mächtige Trutzburgen, die am Ufer thronen wie Festungen, etwa die „Grands Hôtels“ von Brunnen am Vierwaldstätter See oder von Brissago am Lago Maggiore.

 

Sozialneid macht Reisen noch schöner

 

Obwohl man sich denken kann, wie übertrieben und geschönt solche Darstellungen sind: Diese Europareise an Plakat-Wänden entlang ist ein Augenschmaus. In der ersten Abteilung „Reiseziele um 1900“ wird die Belle Époque wieder lebendig, mit ihren Wespentaillen-Damen in ausladenden Röcken und Hüten und feschen Kavalieren an ihrer Seite. Das Leben der begüterten Bourgeoisie wirkt wie ein ewiges Fest, von einem sorglosen Zeitvertreib zum nächsten, in aparten Bonbonfarben vor erhabener Panorama-Kulisse. Wie unverschämt viel versprechende Reklame eben sein muss.

 

Tauchen die übrigen Gesellschaftsschichten auf, dann als Staffagefiguren. Wie auf einem Plakat, das für Dampfer-Fähren von Ostende nach Dover in England wirbt: Fischer und Bauern stehen andächtig am Kai und bestaunen das riesige Schiff, das gerade abgelegt hat und Kurs aufnimmt. Reisen wird eben durch den Sozialneid der Daheimgebliebenen noch schöner.

 

Ärgerliche Wandtexte

 

Der Traum vom dolce vita wird allein getrübt durch die dürftige Präsentation. Damit ist weniger die gleichförmige Hängung in langen Reihen gemeint, nur unterbrochen durch ein paar Blow-up-Kopien im Riesenformat. Sondern eher die uninformierten und -inspirierten Wandtexte – als verstünden die Macher ebenso wenig von Kunst- wie von Kulturgeschichte des Tourismus. Mehrfach wird behauptet: „Die Gestaltung war konventionell, sehr malerisch, stilistische Entwicklungen der Zeit – etwa Historismus oder Jugendstil – spiegeln sich in den Reiseplakaten nicht wider.“ Wer diese Zeilen schrieb, hat wohl zu lange in die Sonne geschaut.

 

Direkt gegenüber hängt ein Plakat von Alfons Mucha, dem wohl berühmtesten aller Jugendstil-Maler. Der Gigant in einer Felsspalte, der 1913 für den Lötschberg wirbt, könnte einem symbolistischen Gemälde von Arnold Böcklin entsprungen sein. Ein Plakat für das „Seebad Zopot – Die Perle der Ostsee“ von 1910 ähnelt mit seinem kühn angeschnittenen Segelboot japanischen Farbholzschnitten – damals war Japonismus sehr in Mode. Nebenan trinkt eine nackte Figur kauernd aus einem Schwarzwald-Quell und wirbt damit für Badenweiler. Die flächige Szene ist in stumpfen Farben gehalten wie auf Werken der Nabis-Gruppe.

 

Belanglose literarische Kopfreisen

 

Von wegen: Diese Plakate bieten ein Potpourri aller geläufigen Kunststile um 1900. Versierte Werbegrafiker setzten sie virtuos ein – auch wenn ihre Namen heute weitgehend vergessen sind. Manche Entwürfe wirken mittlerweile arg überladen, mit Bildern im Bild, Schnörkeln hier und Schmuckbordüren dort; aber sie sprachen ein Publikum an, das solche visuelle Überfülle gewohnt war. Andere sind zeitlos gelungen; etwa ein Plakat von Ludwig Hohlwein – ein Star der Branche, der später NS-Illustrator wurde – für den Starnberger See. Dunkelblaue Bergkette, malvenfarbenes Wasser, darin zarte braune Balken als Spiegelung einer Fähre – sonst nichts.

 

Gleichfalls belanglos sind die „literarischen Kopfreisen“, welche die Schriftstellerin Felicitas Hoppe zur Ausstellung beigesteuert hat. Offenbar sah sie die Motive nur flüchtig durch und notierte, was ihr dazu durch die Rübe rauschte. Das changiert zwischen gouvernantenhaften Gemeinplätzen wie „Die Welt ist zwar klein und schrumpft tagtäglich weiter, aber keiner von uns hat bis dato alles gesehen. Die Reise ist noch nicht zuend, wenn man Kirch und Turm erkennt“ und haltlos abdriftendem Schwadronieren, das mit den Exponaten nichts zu tun hat.

 

Simultan-Stereoskopie für 25 Personen

 

Am besten ignoriert man den Wortschrott, denn es wird noch viel geboten. Etwa ein echtes Kaiserpanorama, das seine Blütezeit zwischen 1880 und 1910 erlebte. Um eine Holztrommel mit fünf Metern Durchmesser saßen bis zu 25 Personen und betrachteten durch Gucklöcher stereoskopische Aufnahmen aus aller Welt mit 3-D-Effekt: von tanzenden Indios in Bolivien bis zu fliegenden Händlern in China.

 

Oder eine große Auswahl so genannter Photochrome: Das waren aufwändig kolorierte Foto-Drucke, auf denen Himmel und Meer stets stahlblau, Pflanzen saftig grün und Straßen blitzblank ockerfarben waren. Oder die ersten Bildpostkarten, auf denen auffällig häufig Hotels abgebildet wurden – damit die Empfänger erfuhren, wie fürstlich der Absender logierte.

 

Unkommentierte Novitäten

 

Bei Plakaten aus den 1920/30er Jahren fällt den Kuratoren erstmals auf, dass sie seinerzeitige Kunststile aufgreifen, etwa Neue Sachlichkeit und Art déco. Da ließe sich ergänzen: Die monströsen Lokomotiven und Ozeandampfer, die jetzt in Untersicht über die Plakate rasen und stampfen, sind ohne Futurismus und Konstruktivismus undenkbar.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "ABC des Reisens" mit originellen, alphabetisch geordneten Exponaten zum Jubiläum "150 Jahre Kunstbibliothek" im Kulturforum, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Der Rhein – Ritterburgen mit Eisenbahnanschluss" über die Anfänge des Massentourismus im Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Von Istanbul bis Yokohama" über die “Reise der Kamera nach Asien 1839-1900” im Museum für Ostasiatische Kunst, Köln

 

und hier einen Artikel über die Ausstellung "Die Welt um 1914: Farbfotografie vor dem Großen Krieg" mit prächtigen Fotoserien von allen Kontinenten im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Auszeit – Vom Faulenzen und Nichtstun" – Kunst-Enzyklopädie der Urlaubszeit im Sprengel-Museum, Hannover.

 

Man vermisst auch Hinweise auf Wandel und Novitäten. Auf einem Hohlwein-Plakat für Garmisch-Partenkirchen wird 1935 „sein neuer Ski-Aufzug“ beworben: Eine sportliche Maid hängt am Teller-Lift. Und Reklame für „Die neue Autostrasse zur Alpe di Suisi“ richtet sich 1937 an Individual-Automobilisten, deren Zahl deutlich gestiegen ist.

 

Reiseziel-Assoziationen durch Abstraktes

 

Schneller, höher, weiter: In den 1950er Jahren wächst die Reise-Reklame über sich hinaus. Namhafte Künstler gestalten nun Plakate für Fluggesellschaften. Harold Percy Foster lässt für die „British Overseas Airways Corporation“ (BOAC) Menschen aus aller Herren Länder gen Himmel spähen; dort prangt wie ein Sternzeichen das weltumspannende BOAC-Liniennetz.

 

Raymond Pagès malt Abstraktes, das Reiseziele assoziieren soll: explodierendes Farbfeuerwerk für Brasilien, geometrisch aufgereihte Lichtpunkte ähnlich Wolkenkratzer-Fenstern für die USA. Und Georges Mathieu, damals ein berühmter Schnellmaler, charakterisiert jede Destination ausdrucksstark mit ein paar gestischen Strichen.

 

Trip zum unendlichen Lava-Ozean

 

Dieser Höhenflug ist noch nicht zuende: Die NASA gab 2019 eine Plakat-Serie in Auftrag, die mit galligem Humor Weltraum-Tourismus bewirbt. Etwa: „Relax on Kepler-16b“, einem Planeten mit zwei Sonnen: „Where your shadow always has company“ („Wo Ihr Schatten stets Gesellschaft hat“).

 

Oder Trips zu „55 Cancri e“, auf dem „Skies sparkle above a never ending ocean of lava“ („Himmel funkeln über einem unendlichen Lava-Ozean“). Schön schaurig – dann lieber zurück zu „Earth: Your oasis in space where the air is free and breathing is easy“ („Erde: Ihre Oase im All, wo Luft gratis und Atmen einfach ist“) Am besten bleibt man doch zuhause: Wer wüsste das besser als die US-Weltraumagentur?