Todd Haynes schaut in seinen Filmen oft in die Abgründe hinter der perfekten Fassade. In „Dem Himmel so fern“ (2002) befreit sich die Hauptfigur aus einer nach außen hin makellosen Zweckehe, in „Carol“ (2015) wird die lesbische Liebe dem Bild der vorbildlichen Familie geopfert, und im Gerichtsdrama „Vergiftete Wahrheit“ (2019) muss ein Anwalt tief graben, um die nicht nur metaphorischen Leichen im Keller eines Pharmakonzerns zutage zu fördern. Auch in Haynes’ neuem Film „May December“ ist nicht alles wie es scheint.
Info
May December
Regie: Todd Haynes,
113 Min., USA 2023;
mit: Natalie Portman, Julianne Moore, Charles Melton
Weitere Informationen zum Film
Leben nach dem Skandal
Und sie rührt an der Vorgeschichte von Gracie (Julianne Moore), die sie studieren möchte, um sie in einem Film zu verkörpern. Denn vor mehr als 20 Jahren landete die damalige Lehrerin auf den Titelseiten sämtlicher Boulevardblätter, nachdem bekannt wurde, dass sie eine Affäre mit einem Siebtklässler hatte. Sie war damals 36 Jahre alt, und musste, bereits von ihm schwanger, eine Gefängnisstrafe verbüßen. Inzwischen sind die beiden seit langem verheiratet, haben drei Kinder und sich ein von außen betrachtet harmonisches Familienleben am Rande von Savannah aufgebaut.
Offizieller Filmtrailer
Eigenwillige Dreiecksgeschichte
Sie fertigt Torten auf Bestellung an, Joe (Charles Melton) hat einen Bürojob und züchtet in der Freizeit Monarchfalter, eine vom Aussterben bedrohte Schmetterlingsart. Das ist das Personal dieser eigenwilligen Dreiecksgeschichte; sie ist vom Fall der Lehrerin Mary Kay LeTourneau aus Seattle inspiriert. Gracie duldet Elizabeths Anwesenheit in der Hoffnung, von ihr nicht als Zerrbild wie einst in den Medien, sondern als freundliche und liebenswerte Person dargestellt zu werden.
Dass sich die Schauspielerin wie ein Schatten an sie heftet, Grenzen nicht nur durch Fragen überschreitet und damit das fragile Gleichgewicht ihres Lebens erschüttert, nimmt sie dafür in Kauf. Je mehr Elizabeth sich in ein fremdes Leben drängt, desto deutlicher zeichnet sich ab, dass es ihr dabei weniger darum geht, es zu verstehen, als vielmehr um eigene Selbstbestätigung. Sie flirtet offensiv mit dem jungen, attraktiven Joe, der gerade eine frühe Lebenskrise durchzumachen scheint. Gleichzeitig saugt sie sich beinahe parasitär an Gracie fest.
Machtkampf um das brüchige Selbstbild
Die zeigt sich scheinbar entgegenkommend, bis hin zur Demonstration ihrer täglichen Schminkroutine. Die Szene, in der Elizabeth vor dem Spiegel neben Gracie steht, um sich ihre Gesten abzuschauen, wirkt zugleich intim, aber auch sehr beängstigend. Denn hier spielt sich offenkundig ein Machtkampf ab, bei dem unklar ist, wer letztlich die Oberhand behalten wird: Gracie, die in der Vergangenheit mit Schlammschlachten einige Erfahrung gesammelt hat? Oder Elizabeth, die künftig das Bild von Gracie prägen wird, das sich die Öffentlichkeit von ihr macht – und zugleich ihrem Studienobjekt wohl ähnlicher ist, als sie sich einzugestehen vermag.
Dieses Verwirrspiel um Identität und brüchige Persönlichkeitsbilder erzählt Haynes langsam und ohne körperliche Aggression. Der Konflikt spielt sich eher im Innenleben der Figuren ab und bricht sich nur gelegentlich ins Äußere hervor. So wird Gracie manchmal von Weinkrämpfen übermannt, während Joe kaum etwas anzufechten scheint. Als ein Paket voller Exkremente vor der Tür liegt, wird es von ihm routiniert entsorgt; Gracie bemerkt, dass derlei nur noch selten vorkomme.
Pikante Details gegen taktische Ignoranz
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Tage am Strand" - gewagtes Liebesdrama über Liebe zu deutlich jüngeren Männern mit Naomi Watts + Robin Wright von Anne Fontaine
und hier einen Bericht über den Film "Die schönen Tage" - lakonisches Drama von Marion Vernoux mit Fanny Ardant + jungem Liebhaber
und hier eine Besprechung des Films "Vergiftete Wahrheit (Dark Waters)" – fesselndes Dokudrama über Umweltschutz-Anwalt gegen Chemieriesen von Todd Haynes
und hier einen Beitrag über den Film "Carol" – ergreifendes lesbisches Liebesdrama in den 1950er Jahren von Todd Haynes mit Cate Blanchett.
Letztlich sind Elizabeths Wühlen und Gracies taktische Ignoranz die Waffen im Duell der beiden Frauen; es erinnert in den besten Momenten an Ingmar Bergmans Meisterwerk „Persona“ von 1966, das ebenfalls vom Machtkampf zweier Frauen in Quasi-Symbiose handelt. Zugleich gewinnt auch Joe im Lauf des Films immer mehr Profil. Inzwischen ist er so alt, wie Gracie es war, als er sie verführt hat. Dabei wirkt er zwischen den beiden Frauen fast am reifsten, bleibt aber genau wie diese emotional wenig greifbar.
Mehr Fragen als Antworten
So ist die eigentlich faszinierende – und zugleich meisterhaft subtil beunruhigende – Qualität des Films und seiner Figurenzeichnung durch exzellentes Schauspiel: das Vage, zwischen den Zeilen Ausgesprochene, das sich mitunter nur durch ein leichtes Lispeln äußert. Der Film positioniert sich nicht eindeutig, sondern wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Das ist nicht immer angenehm, sieht aber gut aus und hallt lange nach.