Unterleibsgeschichten gehen immer: Als die 28-jährige Maria Lassnig (1919-2014) im Kärntner Kunstverein 1947 ausstellen durfte, verursachte sie einen Skandal – und wurde zur lokalen Berühmtheit. Denn das Genital ihres Partners, des Schriftstellers und Lyrikers Michael Guttenbrunner, leuchtete rot auf der Leinwand – was das Aktbild im damaligen Verständnis zur Pornographie werden ließ.
Info
Mit einem Tiger schlafen
Regie: Anja Salomonowitz,
107 Min., Österreich 2024;
mit: Birgit Minichmayr, Johanna Orsini, Oskar Haag, Lukas Watzl
Weitere Informationen zum Film
Tiger-Beischlaf als Bildtitel
So wird die Geschichte zumindest von Regisseurin Anja Salomonowitz in ihrem Film „Mit einem Tiger schlafen“ kolportiert. Der Titel bezieht sich erstens auf ein bekanntes Bild von Lassnig aus dem Jahr 1975 und zweitens auf ihre Arbeitsweise. Oft legte sie sich neben die Leinwand auf den Boden, um Körperempfindungen unmittelbar abzubilden.
Offizieller Filmtrailer
Anekdoten für sperrig-intimen Spielfilm
Aus diesem Bewusstseinsstrom heraus entstanden farbenfrohe, bisweilen surreale Gemälde. Die Malerin sprach von body awareness; der Begriff „Körpergefühl“ erschien ihr zu gefühlig. Intensiv körperlich rang Lassnig um und mit ihren Motiven – wofür der Film eindrucksvolle, wenngleich etwas repetitive Bilder findet.
Wie oben beschrieben hat sich die Ausstellungs-Szene im Kärntner Kunstverein 1947 wohl nicht zugetragen. Lassnig und Rainer begegneten sich tatsächlich erst ein Jahr später: Sie wurden ein Liebespaar und arbeiteten zusammen, waren aber auch Konkurrenten. Ausgehend von biographischen Eckdaten malt Regisseurin Salomonowitz Anekdoten aus, die sie zu einem sperrig-intimen Spielfilm mit dokumentarischen Elementen verdichtet – kein klassisches Biopic, eher ein essayistisches Künstlerinnen-Porträt.
Alle Lebensalter ohne Maske verkörpert
Die introvertierte Lassnig hatte sich zwar mit Haut und Haaren ihrer Kunst verschrieben. Doch zunächst bekam der begnadete Selbstvermarkter Rainer die Anerkennung, auf die sie noch Jahrzehnte lang warten sollte. In einer Filmszene präsentieren beide, gerade in Paris angekommen, einer Galeristin ihre Mappen. Diese ignoriert jedoch die Arbeiten von Lassnig und degradiert sie zur Übersetzerin für Rainer, dem sie großes Talent bescheinigt. Derartige Kränkungen sollten lange an Lassnig nagen.
Ihr ganzes Leben wird von Birgit Minichmayr ohne Masken gespielt – mitsamt ihrem Selbstbewusstsein, Eigensinn und ihrer Verletzlichkeit. Allein durch Mimik und Körperhaltung verwandelt sich die Schauspielerin mal in ein siebenjähriges Kind, das unter der Mutter leidet, mal in eine Greisin, die im Rollstuhl sitzend mit der Leinwand ringt. Nur durchs Malen werde das Leben für sie erträglich, sagt sie einmal.
Enttäuscht in Paris, erfolglos in New York
Lassnig kam als uneheliches Kind in Kärnten zur Welt. Während der NS-Zeit studierte sie an der Kunstakademie in Wien. Sie galt als strebsam und unpolitisch, obwohl sie mit ungewöhnlicher Farbwahl aneckte – ihr erster Lehrer nannte daher ihren Stil „entartet“. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sie sich vom Expressionismus und vom Surrealismus inspirieren. Anfang der 1950er Jahre suchten sie und Rainer in Paris Anschluss an die dortige Szene, waren aber bald enttäuscht von der Saturiertheit führender Figuren.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Maria Lassnig: Der Ort der Bilder" – große Werkschau in den Deichtorhallen, Hamburg
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Isa Genzken – New Works" – umfangreiche Retrospektive im Museum für Moderne Kunst (MMK), Frankfurt am Main
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Übermalt. Verwischt. Ausgelöscht: Das Porträt im 20. Jahrhundert" – Themenschau in der Hamburger Kunsthalle mit Werken von Arnulf Rainer
und hier einen Beitrag über den Film "Andrea läßt sich scheiden" – melancholisches Provinz-Porträt von Josef Hader mit Birgit Minichmayr.
„I only give depressed interviews“
Im letzten Lebensdrittel fand sie dann in der Kunstwelt doch noch ausgiebig Anerkennung. 1980 stellte auf der Biennale in Venedig aus, 1982 und 1997 auf der Documenta. Plötzlich traf ihre neoexpressiven Malweise den Zeitgeist, worüber sie sich allerdings nur bedingt freute. Im Film lässt die Regisseurin bei der Eröffnung einer großen Werkschau Lassnigs Sarkasmus durchscheinen. Eine Interviewanfrage lehnt sie mit den Worten ab: „I only give depressed interviews“ – und das ginge eben heute nicht, denn über die aktuelle Ausstellung freue sie sich.
Oft wirkt Salomonowitz‘ Film erfrischend experimentell, manchmal irritiert er aber auch – etwa wenn gelegentlich die vierte Wand durchbrochen wird und die Akteure sich ohne Anlass direkt an den Zuschauer wenden. Trotz einiger Redundanzen, wie beim Verhältnis zur Mutter, bietet dieses Porträt durchaus erhellende Einblicke in Leben und Schaffen einer lange unverstandenen Künstlerin.