„M&M“ kommen! Damit sind nicht bunte Schokodrops gemeint, sondern im Politsprech von Diplomaten Emmanuel Macron und Angela Merkel, beide 2020 noch Regierungschefs. Während Italiens Innenminister Matteo Salvini täglich gegen Migranten hetzt, wollen sie mit einem gemeinsamen Überraschungsbesuch in einem Flüchtlingslager auf Sizilien demonstrieren, wie einwandfrei die europäische Einwanderungspolitik funktioniert.
Info
Nathalie – Überwindung der Grenzen
Regie: Lionel Baier,
84 Min., Schweiz/ Frankreich 2022;
mit: Isabelle Carré, Théodore Pellerin, Tom Villa, Ursina Lardi
Weitere Informationen zum Film
Staatsbesuch ist wie Téléshopping
Der PR-Berater des französischen Präsidenten legt sofort los: Das Camp in zweckentfremdeten Schulgebäuden sei viel zu sauber und aufgeräumt. Gefragt seien aber plakative Vorher-Nachher-Szenen: „Ein Staatsbesuch muss aussehen wie Téléshopping!“. Bei ihrer Ankunft sollten M&M auf arme Teufel treffen, die in Zelten zwischen Müll hausen. Dann verspräche Macron Besserung – und zwei Wochen später würden TV-Teams das bestens organisierte Lager filmen. Versprechen gehalten; voilà!
Offizieller Filmtrailer
Zögern wie ein Junge aus Afrika
Ähnlich tatkräftig arrangiert der PR-Profi eine Modellsituation. Beim Erstaufnahme-Gespräch vor einer Europa-Fahne befragt ein Verwaltungsmann einen Flüchtling. Allerdings ist der Senegalese literarisch gebildet und spricht perfekt Französisch. Das missfällt Charles-Antoine: „Könnten Sie vor der Antwort nicht etwas zögern?“ Erwiderung des Befragten: „So wie ein kleiner Junge aus Afrika?“
Hätte der schweizerische Regisseur Lionel Baier doch an dieser Grundidee festgehalten! Dann wäre aus ihr eine schön gallige Satire auf den heutigen Politikbetrieb mit seinem Zwang zur ständigen Schönfärberei geworden – samt spitzzüngiger Dialoge in screwball comedy-Manier und Seitenhieben auf vorauseilenden Gehorsam gegenüber vermeintlicher political correctness.
Mutter-Sohn-Melodram ohne Leidenschaft
Doch nach einer halben Stunde wechseln Thema und Stimmungslage. Der 21-jährige Albert (Théodore Pellerin), Wortführer einer gegen die EU-Politik agitierenden NGO, entpuppt sich als Sohn von Nathalie – sie hat ihre frühere Familie vor zwölf Jahren verlassen, weil sie Frauen liebt. Binnen Minuten wird aus dem überdrehten Politspektakel ein rührseliges Mutter-Sohn-Melodram. Wobei selbstredend die Mutter immer zerknirschter ihre Schuld eingesteht und ihr verstockter Spross allmählich verzeihend auftaut.
Oder eher: Sie sollte zerknirscht sein und er auftauen – was beiden misslingt. Isabelle Carré mag als blasse Eurokratin, die dauertelefoniert und mit Dossiers wedelt, passend besetzt sein. Doch es gelingt ihr keine Sekunde lang, aufwühlende Leidenschaften zu mimen; nicht einmal, wenn sie ihre lesbische Kollegin Ute verführen will. Und Théodore Pellerin stakst nur als Sinnbild von spätpubertärem Trotz durchs Bild – selbst wenn er einer linken Bloggerin mit Insider-News den Kopf verdreht.
Sinneswandel nach Meteoritenfall
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Green Border" - beeindruckendes Flüchtlings-Drama an der polnisch-belorussischen Grenze von Agnieszka Holland
und hier eine Besprechung des Films "Das Wetter in geschlossenen Räumen" - sarkastische Kammerspiel-Satire über Entwicklungshelfer-Exzesse von Isabelle Stever mit Maria Furtwängler
und hier einen Beitrag über den Film "Heute bin ich Samba" - einfühlsame Tragikomödie über illegale Einwanderer in Frankreich von Olivier Nakache und Eric Toledano mit Omar Sy
und hier einen Bericht über den Film "À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen" über die Erfindung der Haute Cuisine von Eric Besnard mit Isabelle Carré.
Kurz darauf fällt ein Meteorit auf Nathalies Dienstwagen – das hatte sie zuvor auch noch geträumt. Ein Zeichen des Himmels, das sie im Nu die Seiten wechseln lässt: Erst schließt sie sich einem Trauermarsch für Ertrunkene an, dann verwandelt sie ein Depot voller Registrierungs-Dokumente in Altpapier. Da ist die scharfzüngige Polit-Persiflage längst zum Wünsch-dir-was-Szenario für Flüchtlingshelfer mutiert. So blumig wie beliebig: Im Reich der Träume ist alles möglich und erlaubt. Auch tonnenschwere Felsbrocken aus dem All, deren Einschlag eigentlich fußballfeldgroße Krater hinterlassen müsste.
Schwarze als stumme Staffage
Wobei der Film konsequent eurozentrisch bleibt. Die Auslöser aller Aufregung, übers Mittelmeer geflohene Schwarze, kommen nach eineinhalb Stunden erstmals zu Wort – für knapp zwei Minuten. Ansonsten taugen sie nur als stumme Staffagefiguren, die malerisch durchs Bild radeln: Bei ihren ideologiegesättigten Redeschlachten über die Bewältigung der Flüchtlingskrise wollen sich die Weißen nicht stören lassen.