Dresden

Archiv der Träume – Ein surrealistischer Impuls im Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona

Wendeltreppe im ADA. © Archiv der Avantgarden, SKD, Foto: Klemens Renner
Mehr Materialfülle geht nicht: Das „Archiv der Avantgarden“ des Sammlers Egidio Marzona umfasst 1,5 Millionen Objekte. Zur Eröffnung im Blockhaus zeigt es eine Surrealismus-Schau – doch die Exponate werden reizlos monoton präsentiert. Das widerspricht der in sinnlichen Fantasien schwelgenden Bewegung.

Solch eine Einrichtung gibt es hierzulande kein zweites Mal. Das Anfang Mai eröffnete „Archiv der Avantgarden“ (ADA) besitzt sage und schreibe mehr als 1,5 Millionen Objekte, darunter mehrere Tausend Kunstwerke. Diese weltweit einmalige Kollektion hat Egidio Marzona seit Ende der 1960er Jahre zusammengetragen.

 

Info

 

Archiv der Träume - Ein surrealistischer Impuls

 

05.05.2024 - 01.09.2024

 

täglich außer montags 15 bis 21 Uhr,

samstags + sonntags 11 bis 19 Uhr

im Archiv der Avantgarden, Blockhaus, Große Meißner Straße 19, Dresden

 

Katalog  43 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Weitere Informationen zum Archiv der Avantgarden

 

Der 1944 in Bielefeld geborene Mäzen und Verleger friaulischer Herkunft interessiert sich nicht nur für abgeschlossene Arbeiten, wie die meisten Sammler es tun, sondern auch für den Kontext, in dem sie entstanden sind: Briefe, Pläne, Entwürfe, Fotografien, Broschüren, Zeitschriften und Kataloge – sogar Werbeplakate und Einladungs-Postkarten. Mit derartigen Ephemera, wie man solche kurzlebigen Papierprodukte nennt, lässt sich das jeweilige geistige Klima und ästhetische Umfeld rekonstruieren, in dem die Künstler agierten.

 

Schmuckschatulle für Schatz

 

2002 übergab Marzona rund 600 Kunstwerke und 40.000 Objekte an die Berliner Stiftung Preußischer Kulturbesitz; 2014 kamen weitere 370 Werke hinzu. Den Löwenanteil seiner Schätze schenkte er aber den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD): eineinhalb Millionen Objekte 2016, zwei Jahre später weitere 200.000. Im Gegenzug sagten die SKD zu, für diesen einzigartigen Schatz einen entsprechend außergewöhnliche Schmuckschatulle anzufertigen.

Interview mit Archiv-Leiter Rudolf Fischer + Impressionen der Ausstellung "Archiv der Träume - Ein surrealistischer Impuls"


 

Nach Flut 2013 geschlossen

 

Das ist geschehen. Nach fünfjähriger Umbauzeit hat das ADA sein Domizil in einem Gebäude direkt an der Augustusbrücke bezogen, mit Panoramablick auf die historische Altstadt vom Albertinum bis zur Semper-Oper am Elbufer gegenüber. Es trägt den irreführend verniedlichenden Spitznamen „Blockhaus“, obwohl das einstige Holzhaus seit fast 300 Jahren nicht mehr existiert. An seiner Stelle wurde 1732/7 im Stil des französischen Barocks die Neustädter Wache errichtet; sie hatte im Lauf der Zeit ein wechselvolles Schicksal.

 

Im Zweiten Weltkrieg brannte das Blockhaus aus und blieb jahrzehntelang Ruine. 1978/82 wurde es wieder aufgebaut und als Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft eingerichtet. Nach der Wende brachte der Freistaat Sachsen hier Akademien und Stiftungen unter – bis das Blockhaus 2013 derart unter Flutwasser litt, dass es geschlossen werden musste. Für die jetzige Nutzung ist es komplett entkernt und im Inneren völlig neu gegliedert worden.

 

Betonquader als Raumfüller

 

Nun füllt den dreigeschossigen Innenraum ein massiger Betonquader, der aber gleichsam in der Luft zu schweben scheint; er enthält die Archiv-Objekte. Eine Wendeltreppe, ebenfalls aus Sichtbeton, führt hinauf. Oben sind eine Handbibliothek mit Büchern zum aktuellen Ausstellungs-Thema, Leseplätze und Studienräume untergebracht; in ihnen können Interessierte nach Anmeldung Original-Materialien einsehen. Die Freifläche im Erdgeschoss bleibt Ausstellungen vorbehalten.

 

Zum Auftakt nimmt sich das Haus den Surrealismus vor: „Archiv der Träume“ ist die Schau betitelt. Träume ähnelten den Avantgarden, versichert Kurator Przemysław Strożek im Katalog, weil „sie auftauchen und wieder verschwinden, wobei sie Spuren hinterlassen und die Vorstellungskraft anheizen“. Von der mitreißenden und inspirierenden Wirkung der Träume ist aber in der Eröffnungs-Ausstellung nicht viel zu spüren. Stattdessen merkt man ihr deutlich an, dass sie einem Mega-Archiv entspringt.

Feature über "Das Archiv der Avantgarden"; © SKD


 

Epochales nur für Experten

 

Im Parterre ist es relativ dunkel. Zudem lässt die enorme Betonlast zwei Meter über dem Kopf die Gedanken nicht gerade frei fliegen. Gegen diese etwas bedrückende Raumsituation müsste die Ausstellungs-Inszenierung angehen: mit hellen Farben, raffinierter Lichtregie oder anderen Akzenten. Aber sie beschränkt sich auf eine ästhetische Minimallösung: Raumteiler, Punktstrahler und Vitrinen. In denen liegt erwartbare Flachware wie Bücher, Zeitschriften und Fotos dicht an dicht; alle Erläuterungstafeln sind arg nüchtern in einförmigem Blocksatz gesetzt.

 

Ebenso eng sind die Wände mit Plakaten, Grafiken und einigen Gemälden gepflastert, deren Auswahl sich kaum entschließt. Gewiss: Etliche von ihnen markieren wichtige Momente in der Entwicklung des Surrealismus. Aber das wird in ihrer monotonen Aneinanderreihung nicht deutlich. Man fühlt sich an Studio-Ausstellungen in Bibliotheken und vergleichbaren Einrichtungen erinnert: Da liegen Erstausgaben von epochaler Bedeutung für die Geistesgeschichte aus. Doch worin sie besteht, wissen nur Experten; Nichtkennern sagen die aufgeschlagenen Folianten wenig.

 

Selbstarchivierung von Duchamp

 

Augenfällig wird das beispielsweise bei der Vitrine mit Ausgaben von „Minotaure“ und „Acéphale“. Beide Zeitschriften erschienen in der Blütephase des Surrealismus in den 1930er Jahren. In ihnen wurden maßgebliche Debatten der Bewegung geführt; die Liste der Mitarbeiter liest sich wie ein Who’s Who der klassischen Moderne. Das lässt das ausliegende halbe Dutzend Titelblätter kaum erahnen. Wäre es nicht sinnvoller, zentrale Thesen und Zitate herauszufiltern, um Betrachtern eine Vorstellung vom Inhalt zu vermitteln?

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Surrealismus und Magie – Verzauberte Moderne" – opulent bestückte Themenschau im Museum Barberini, Potsdam

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Marcel Duchamp" – umfassende Retrospektive des Erfinders der Konzeptkunst im Museum für Moderne Kunst (MMK), Frankfurt/ Main

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Hans Richter – Begegnungen: Von Dada bis heute" – große Werkschau des Multimediakunst-Pioniers im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Max Ernst – Zeichendieb" in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Berlin

 

und hier eine Kritik der Ausstellung "Surreal Futures" - facettenreiche Themenschau über zeitgenössischen Surrealismus im Max Ernst Museum, Brühl.

 

Ein anderes Beispiel ist Marcel Duchamps „Bôite en valise“. Solche „Schachteln im Koffer“ mit verkleinerten Reproduktionen wichtiger Werke fertigte er seit 1941 an; die gezeigte Fassung stammt von 1952. Der Begleittext spricht treffend von „Selbstarchivierung“ – aber schweigt sich darüber aus, welchen Stellenwert diese „mobilen Ausstellungen“ im Gesamtwerk des hintersinnigen Erfinders der Konzeptkunst haben.

 

Kichern der Generation TikTok

 

Dieser spröden Präsentation von Archivalien verleihen bewegte Bilder ein wenig Sinnlichkeit. Filme aus den 1960/80er Jahren von Andy Warhol, Carolee Schneemann und anderen belegen, wie Sujets und Strategien des Surrealismus in der Nachkriegskunst fortwirkten. Vorgeführt werden sie jedoch denkbar lieblos: auf vier antiquierten Monitoren, die jeder Elektromarkt schon vor der Jahrtausendwende ausrangiert hätte. Darüber dürfte die Generation TikTok nur kichern.

 

Allein die Projektion des Experimentalfilm-Klassikers „Dreams That Money Can Buy“ von 1947 verströmt Grandezza. Dafür hatte Avantgarde-Tausendsassa Hans Richter als Regisseur Künstler wie Max Ernst, Fernand Léger und Man Ray gewonnen, die jeweils eine von sechs Episoden inszenierten. Der wilde Ritt durch maßgeschneiderte Traumsequenzen, die ein gerrissener Typ seinen neurotischen Kunden verkauft, verstört und fasziniert noch immer.

 

Drei Häuser in einem

 

Das ADA, so Leiter Rudolf Fischer, soll dreierlei gleichzeitig sein: Museum, Forschungseinrichtung und Kulturhaus. Ob es als letzteres angenommen wird, hängt davon ab, wie interessant seine Veranstaltungen sind. Die Anziehungskraft auf Forscher ist unbestreitbar; hier finden sie zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts mehr Quellen als irgendwo sonst. Als Ausstellungsort wird sich das ADA aber nur etablieren können, wenn es sein Material attraktiver aufbereitet – andernfalls ist die Konkurrenz auf der anderen Elbseite einfach zu groß.